Umstrittener Beitrag in US-Magazin
Litauen: Jüdische Gemeinde wirft Putin Geschichtsklitterung vor
Die jüdische Gemeinde in Litauen wirft dem russischen Staatchef Wladimir Putin vor, Teile der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wissentlich falsch darzustellen. Die Times of Israel berichtete.
Konkret geht es um die Vereinnahmung Litauens durch die Sowjetunion ab 1940 und Putins Geschichtsverständnis, dass es sich hierbei um eine „rechtmäßige Eingliederung“ gehandelt habe.
Diesen Begriff verwendete Putin Mitte Juni 2020 in einem Gastbeitrag für das US-Magazin „The National Interest“ und handelte sich damit in Litauen prompt heftige Gegenwehr von jüdischer Seite ein.
Deren Gemeindevorsteher betonen, dass es sich bei Putins Ausführungen um eine äußerst exklusive Sichtweise handele. Um nicht zu sagen: Geschichtsverfälschung.
Denn letztlich sei die territoriale Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs ab 1940 nichts anderes als der Beginn jahrzehntelanger Unterdrückung eines zuvor freien litauischen Volkes gewesen.
Und gerade die jüdische Bevölkerung, so der berechtigte und historisch belegbare Tenor, habe unter der sowjetischen „Versklavung“ Litauens in besonderer Weise gelitten.
„Als jüdische Nachkommen wehren wir uns gegen diese Verfälschung der Geschichte. Das sowjetische Handeln war nicht rechtens, sondern die Versklavung unseres unabhängigen Litauens“, teilten Gemeindevorsteherin Faina Kukliansky und Politiker Emanuelis Zingeris in einer gemeinsamen Stellungnahme mit.
Zum geschichtlichen Verständnis: 1940 hatten die Sowjets den Nichtangriffspakt mit Nazi-Deutschland (Hitler-Stalin-Pakt) dazu genutzt, die baltischen Staaten zu annektieren.
Im Jahr darauf veranlasste die neue Führung Massendeportationen, in deren Folge über 40.000 baltische Bürger ihrer Heimat beraubt wurden. Darunter waren Tausende Juden – entrechtet, zu Zwangsarbeit verurteilt, ermordet.
Dann jedoch stellte der deutsche Angriff auf die Sowjetunion im Sommer 1941 die Machtverhältnisse in den baltischen Staaten für etwa drei Jahre auf den Kopf.
Die Rote Armee war vertrieben, die Nazis an der Macht – und der jüdischen Bevölkerung, die in Litauen verblieben war, wurde nicht vorstellbares Leid zufügt. Den Gewaltexzessen der SS und ihrer Helfer fielen über 200.000 litauische Juden zum Opfer. Fast 90 Prozent der Gemeinde waren ausradiert.
Später dann die Rückeroberung der baltischen Staaten durch die Rote Armee. Befreit war Litauen damit aber lediglich von Hitlers Bluthunden, der Terror blieb.
Schon bald setzten sich die nächsten Deportationszüge in Bewegung. Abermals waren es Zigtausende, die Heimat und Leben verloren.
Sehr zum Verdruss Litauens und seiner jüdischen Gemeinde weigert sich Moskau bis heute beharrlich, die Übernahme der baltischen Staaten als unrechtmäßige Besatzung anzuerkennen.
Obendrein nun Putins Vorstoß, mit dem sich der Diskurs einmal mehr zu der Frage verdichtet, ob großes Verbrechen (Sowjetunion) im Lichte noch größerer Verbrechen (Nazi-Deutschland) relativiert, ja reingewaschen werden kann.
Kann es nicht, sagen Menschen wie Faina Kukliansky und Emanuelis Zingeris. Und es bleibt zu hoffen, dass die jüdische Gemeinde in Litauen die Deutungshoheit über ihre leidvolle Geschichte schnellstmöglich wiedererlangen wird.
Der Kreml scheint da allerdings andere Pläne zu verfolgen. Stand heute sieht es auch noch so aus, als könne Putin seine Version der Geschichte noch bis weit ins nächste Jahrzehnt erzählen.
stha