Briefe aus England – Belohnung für’s Aufessen
Das Drama mit dem Schulsystem in England
Mein Sohn ist fünf Jahre alt. Ein Kindergartenkind ohne Kindergarten. Schon vor seinem 5. Geburtstag ging er von 8:40 Uhr bis 15:15 Uhr in die Schule. Jeden Tag. Außer Freitags. Da endet seine Schule um 14 Uhr.
Er lernt dort lesen, rechnen und schreiben. Spielen darf er auch manchmal, sogar draußen im Matsch.
Allerdings nicht, wenn er in der Woche nicht genügend gelesen hat. Die Kinder, die nicht im Buch eingetragen haben, dass sie mindestens dreimal in der Woche gelesen haben, müssen am Ende der Woche drinnen bleiben und lesen, während die anderen Kinder draußen spielen. Da macht Lesen richtig Spaß.
Mein Sohn liest ein bisschen, manchmal. Wenn er keine Lust hat, fälschen wir sein Buch, damit er spielen darf.
Wenn er sein Mittagessen in der Schule aufisst, bekommt er einen Aufkleber. In Großbritannien haben 62% aller Erwachsenen Übergewicht. Also habe ich einen Brief an die Schule geschrieben, er möge doch bitte keine Belohnung fürs Aufessen bekommen.
Wir haben ihn erzogen, auf sein Hungergefühl zu hören. Er soll nicht weiter essen, wenn er satt ist, motiviert durch einen Aufkleber. Einen Monat lang, vielleicht auch zwei, haben sie den Brief berücksichtigt. Dann kam er wieder mit einem Aufkleber nach Hause. Diese Woche hat er dreimal aufgegessen.
Schriftliche Hausaufgaben bekommt er auch, übers Wochenende. Da muss er Buchstaben nachmalen und schreiben. Er rennt nun weg, sobald das Heft erscheint. Kein Aufkleber der Welt kann ihn, noch uns motivieren, ihn damit zu quälen. Hatte ich erwähnt, dass er FÜNF Jahre alt ist?
Wir überlegen nun, ihn auf eine Privatschule zu schicken. Im Wald gelegen, teilweise Unterricht im Wald. Er würde dort in einer Klasse von nicht mehr als 20 Schülern unterrichtet werden, von einer Lehrerin und einer zusätzlichen Hilfskraft. Hausaufgaben gibt es dort erst ab Year 3, was in Deutschland vom Alter her der 2. Klasse entspricht und hier das vierte Schuljahr ist.
Das Problem ist, dass ich vom ideologischen Prinzip her, gegen Privatschulen bin. Diese Schule ist keine akademisch selektive Privatschule, aber arme Kinder werden diese Möglichkeit nie geboten bekommen.
Es gibt hier keine Schulpflicht. Homeschooling ist eine Möglichkeit. Dort wird entweder zu Hause oder in anderen Umgebungen unterrichtet. Oft in Zusammenarbeit mit anderen Homeschoolern, die sich in Gruppen treffen, gemeinsam etwas unternehmen, Lehrstoff besprechen und austauschen.
Unschooling wird eine Methode genannt, bei der das Kind entscheidet, je nach Interessen, was es lernen möchte. Dann werden dem Kind die Ressourcen dazu geboten. Die Idee ist, dass Kinder, wenn sie in Ruhe gelassen werden, nie aufhören zu erkunden und zu lernen.
Beide Methoden haben Anhänger und Gegner. Die Anhänger scheinen seit der Amtszeit von Michael Gove der letzten Regierung größer geworden zu sein. Im Jahr 2015 berichtete die BBC, es gebe eine Zunahme der zu Hause unterrichteten Kinder um 65% in den letzten sechs Jahren. Wie kam es dazu?
Michael Gove hat mit seiner Tory Partei das englische Schulsystem in vier Jahren Amtszeit (er wurde kurz vor der letzten General Election abgesetzt, vermutlich, weil er so unbeliebt war und die Tories die Wahl gewinnen wollten, was ihnen tatsächlich leider gelang) komplett reformiert.
Er hat Free Schools eingeführt und die Zahl von Akademien vervielfacht, die den Bestimmungen der Regierung nicht so stark unterworfen sein sollten. Gleichzeitig hat er sich mehr als je zuvor ein Secretary of Education in das Schulwesen ein- und dieses aufgemischt.
Bei einem Großteil der Lehrkräfte und den Gewerkschaften war er so unbeliebt wie kein Kultusminister vor ihm. Die Kinder in England fingen immer früh an mit der Schule. Jedoch waren die akademischen Ansprüche in den jungen Jahren wesentlich geringer.
Nun soll Großbritannien wettbewerbsfähig mit z.B. China werden. Es soll besser abschneiden in der PISA-Studie. Kleine Kinder werden nach Leseverständnis und Schreibkompetenz getestet. Siehe Year 2 SATs Anhang.
Year 2 entspricht vom Alter her der 1. Klasse in Deutschland. Die Lehrer stehen unter Druck. Die Resultate der SATs Tests beeinflussen das Ansehen der Schule, und werden aufgelistet. Wenn sich die Schüler nicht wesentlich verbessern, bis sie elf Jahre alt sind (in dem Schuljahr finden erneut SATs Tests statt), geht dies mit ein in die Inspektionsberichte der jeweiligen Schule.
Bisher schneiden britische Kinder international nicht besser ab, was die schulischen Leistungen betrifft, als Kinder vieler anderer Länder, und liegen weit hinter Estland und Finnland, wo die formale Schule beginnt, wenn die Kinder das siebte Lebensjahr abgeschlossen haben.
Viele Experten sind sich einig, dass die formale Schulbildung in Großbritannien zu früh beginnt, und zu akademisch ausgerichtet ist in den jungen Jahren. Es gibt sogar eine Kampagne gegen das bestehende System. Es bleibt abzuwarten, wie mit diesen Erkenntnissen umgegangen wird.
Pia Kurtsiefer
Über die Autorin Vor 13 Jahren zog Pia Kurtsiefer aus dem Rheinland nach London, um als Lehrerin in einer Schule für autistische Kinder zu arbeiten. Heute lebt sie mit Kind und walisischem Mann in Hertfordshire. Für NORDISCH.info schreibt sie die Serie „Briefe aus England“. |