Projekt „Emerging CWD“
Chronische Auszehrkrankheit: Norwegische Rentiere der Schlüssel zur Heilung einer tödlichen Krankheit?
Die sogenannte Zombie-Hirsch-Krankheit (CWD) ist eine ansteckende Erkrankung des zentralen Nervensystems bei Hirschen – ähnlich der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit beim Menschen. Um Heilungsmethoden zu finden, führt das norwegische Veterinärinstitut Infektionsversuche an Rentieren durch. Die Mediziner glauben, dass die Rentiere der Schlüssel zur Heilung und zum Erhalt der Tiersart sind.
CWD ist eine tödliche Erkrankung, die das Gehirn von Hirschartigen zerstört. Sie gilt als das, was der Rinderwahnsinn für Rinder und die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJD) für den Menschen ist – eine tödliche Hirnerkrankung ohne Heilung.
2016 wies das norwegische Veterinärinstitut die Krankheit erstmals in Europa nach, bei wild lebenden Rentieren in Südnorwegen. Sylvie Benestad, Prionenforscherin am Institut, erinnert sich: „Das war eine große Überraschung. Zum ersten Mal wurde CWD in Europa zur Realität.“
Internationale Kooperation zur Bekämpfung von CWD
Um die Krankheit besser zu verstehen, haben norwegische Wissenschaftler das internationale Forschungsprojekt „Emerging CWD“ ins Leben gerufen, das unter der Leitung von Benestad steht. Es widmet sich der Entwicklung von CWD-Stämmen, ihrer Ausbreitung unter Hirschartigen sowie dem möglichen Risiko für andere Tierarten und den Menschen.
Europa und Nordamerika arbeiten dabei eng zusammen – Kontinente, auf denen die Seuche seit Jahrzehnten bekannt ist. In den USA und Kanada wütet CWD seit den 1960er bzw. 1990er Jahren und gefährdet Wildtiere, Jagdtraditionen und den Fleischverzehr.
Ein Kernpunkt des Projekts ist ein bahnbrechendes Experiment: Erstmals führen Forscher Infektionsstudien an norwegischen Rentieren durch. Bisherige Versuche basierten ausschließlich auf nordamerikanischen Tieren und Prionen. Der norwegische CWD-Koordinator Jørn Våge betont den Erkenntnisbedarf:
„Da CWD in Europa historisch neu ist, müssen wir verstehen, wie sich die Krankheit unter norwegischen Tieren entwickelt.“
Ein drastischer Kampf gegen die Seuche
Der Nachweis von CWD 2016 führte zu harten Maßnahmen: In der Nordfjella-Zone 1 wurde die gesamte Wildrentierpopulation getötet, der Euphemismus sagt gekeult dazu. Das Gebiet bleibt bis heute rentierfrei. Doch die Krankheit erreichte später auch die Hardangervidda, Heimat der größten Wildrentierpopulation Europas.
Zusammen mit kleinen Beständen in Finnland sind Norwegens Wildrentiere die letzten ihrer Art in Europa – ein schützenswerter Schatz, der durch die Krankheit ernsthaft bedroht ist.
Gefahr für Wildtiere und Kultur
Sollte sich CWD weiter ausbreiten, könnte die Krankheit nicht nur die Wildrentiere, sondern auch die Rentierzucht und die samische Kultur in der nordischen Region gefährden. Hirsche, Elche und Rehe sind ebenfalls potenziell betroffen. Zwar scheinen nordische CWD-Stämme bei Elchen und Hirschen weniger infektiös zu sein, doch sie können in die Umwelt gelangen und dort langfristig Krankheiten verursachen.
„Wir haben für den Versuch 13 weibliche Kälber aus der Filefjell-Herde sorgfältig ausgewählt. Sie mussten gesund sein, sich an Menschen gewöhnen und bestimmte genetische Merkmale aufweisen“, erklärt Våge.
Genetische Profile spielen eine zentrale Rolle, da frühere Studien zeigten, dass Tiere mit bestimmten Genkombinationen anfälliger für CWD sind.
Rentiere reisen nach Kanada
Weil Norwegen keine geeigneten Einrichtungen für solche Experimente besitzt, wurden die Tiere in kanadische Labore verlegt. Im Herbst reisten die Rentiere nach Ottawa – begleitet von einer kuriosen Anekdote:
Der Organisator des Transports hieß Nissen, was unweigerlich Assoziationen zum Weihnachtsmann und seinen fliegenden Rentieren weckte. Trotz des ernsten Hintergrunds sorgt dies für einen erheiternden Moment in der Forschungsgeschichte.
Ein Projekt von globaler Tragweite
Das Forschungsprojekt „Emerging CWD“ läuft bis 2029 und wird durch den norwegischen Forschungsrat sowie internationale Partner finanziert. Ziel ist es, das Verständnis der Krankheit zu vertiefen und ihr zoonotisches Potenzial – die mögliche Übertragung auf Menschen – genauer zu bewerten.
Die Ergebnisse könnten nicht nur das Überleben der letzten Wildrentiere Europas sichern, sondern auch zur globalen Bekämpfung von CWD beitragen.