Kommentar
Kalsarikännit – Wenn alleine Saufen zum Lifestyle erhoben wird
Ein Sommerloch-Thema hat dieses Jahr zwei Monate gebraucht, bis es von England über Kontinentaleuropa in die USA kam. Und es heißt Kalsarikännit.
Kalsarikännit ist das finnische Wort dafür, dass man sich zuhause alleine in Unterwäsche betrinkt. Nicht unbedingt eine finnische Erfindung, wenn man sich Homer Simpson anschaut. Der Reiz, sich abends frei zu machen und alleine die Welt etwas schöner zu trinken, sich etwas zu gönnen oder andere Euphemismen für einen kleinen Rausch zu bemühen, ist auch fernab des Polarkreises bekannt. Nur hat es keine Sprache abseits der finnischen bislang geschafft, dies in ein Wort, und somit in ein Lebensgefühl zu packen.
Die Lifestylewelle will geritten werden
Seit dem Erfolg des dänischen Gemütlichkeitsbegehrens Hygge in Ratgebern, Kochbüchern und nicht zuletzt einer Zeitschrift, hat die schreibende Zunft Blut geleckt. So wie Kinder den gleichen Witz noch fünf mal erzählen, wenn er beim ersten Mal lustig war, versuchen Autoren und Verlage immer wieder neue Trends aus dem Norden Europas zu lancieren. Gleich den sich wiederholenden Witzen, mit immer weniger Erfolg.
Hygge, Lagom, Sisu, Kalsarikännit
Bereits im März berichtete die US Vogue, dass Kalsarikännit der neue Trend sei. Auslöser war eine Emojireihe, die das finnische Außenministerium herausgab. Diese sollte typisch finnische Emojis darstellen, und enthielt, nicht ohne Augenzwinkern, auch eines für den Solorausch in Unterhosen.
Im Juni berichtete die BBC über das neu erschienene Buch des Finnen Miska Rantanen „Päntsdrunk: The Finnish Art of Drinking at Home. Alone. In Your Underwear“. Endlich ein Lifestyletrend, der nicht so anstrengend ist, beschied die BBC – die Resonanz in Deutschland folgte sofort.
Magazine von Elle über Jolie bis zu Pro Sieben berichteten von den guten Neuigkeiten aus dem Norden. Alleine betrunken in Unterhosen sein war der neue Witz, den nun jeder erzählte. Dann kehrte Ruhe ein.
Zwei Monate später kommt Kalsarikännit, oder wie es eingeenglischt heißt: Päntsdrunk, zurück in die USA. NBC News beschrieb Anfang des Monats völlig unironisch die Vorzüge des neuen finnischen Lifestyletrends. Man trinke ganz bewusst abends alleine.
Es sei auch kein Sich-betrinken, sondern vielmehr der Genuss von meist gutem Alkohol und, um Himmels Willen, nicht, um seinen Problemen zu entfliehen oder einer Einsamkeit, sondern vielmehr, weil man sich mal was gönne. Das sei doch ganz toll, sich mal was zu gönnen. In Maßen. Die Finnen seien auch aktuell die glücklichsten Menschen der Welt. Also Kleidung aus und rein mit dem edlen Wein. Daheim. Allein.
Das Ende der Lifestyletrends
Nun ist der Mensch ein Gewohnheitstier, und Alkohol zählt mitnichten zu den guten Gewohnheiten. Vielmehr ist es die Droge mit den nach wie vor meisten Toten pro Jahr in Deutschland und auch in Finnland, und in vielen anderen Ländern sieht es nicht besser aus. Der Einstieg vom Gewohnheitstrinker zum Alkoholiker ist nicht selten; einmal in der Suchtspirale gefangen, wird der Weg zurück mühsam. Viele scheitern daran.
Dass Alkohol auch in Finnland zwei Seiten hat, bekommen die baltischen Nachbarn zu spüren. Wo sich früher viele Finnen besonders gerne in Estland damit eingedeckt haben, die Fähre Helsinki-Tallinn braucht nur zwei Stunden, ist der Tourismus wegen angehobener Alkoholsteuern in Estland bis nach Lettland gewandert. Auf den Fährschiffen sieht man dann die Wagen vollgepackt mit den 24er Bierkartons, Gin-Mischgetränken und härteren Alkoholika.
Die sympathische finnische Selbstironie des Kalsarikännit bekommt durch das Hypen zum Trend so einen bitteren Beigeschmack.
Wenn ich mir eine Sache wünschen dürfte, wäre das keine neuen Lifestylesäue, die durch die medialen Dörfer getrieben werden. Wenn wir uns etwas von den Finnen abschauen wollen, dann würde ich nach meinem Sommertrip nach Helsinki gerne die dort erlebte Höflichkeit wählen. Da können wir von den Finnen noch etwas lernen.
Helena
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