Ein kulinarischer Reisebericht
Geschmackssache: Drei Restaurants auf Saaremaa
Der Einschlag eines Meteoriten in dem Dörfchen Kaali auf der Insel Saaremaa vor 4.000 Jahren hat nicht nur einen großen Krater und Spuren in den einheimischen, finnischen und skandinavischen Mythen hinterlassen, sondern auch meine Frau beeindruckt. „Der Krater wirkt größer, wenn man in ihm steht.“, sagte sie als sie in ihm stand.
Dann bekamen wir Hunger und fuhren nach Kuressaare, um in einem Café zu speisen, das uns bei einem früheren Besuch, in diese Stadt frisch verlieben ließ.
Das Café Retro – Frische Liebe, die rostet
Das ist meine erste Begegnung mit dem Café Retro: Ich bestellte einen Fisch, er kam als ganzer Fisch mit viel Beilage auf einem Extrateller und Roggenbrot frisch aus dem Ofen. Dazu gab es die hausgemachte Limonade, so muss Nektar, das Getränk der Götter, schmecken, schien mir. Die Bedienung freundlich. Das Ambiente: Gläser aus den 70ern, Sitzmöbel und Tische ebenso, keines der Teile ist wie das andere, zusammengetragene Einzelstücke.
Ein kleiner Fernseher an der Wand ließ alte tschechoslowakische Trickfilme tonlos ablaufen, was den Kindern die Wartezeit verkürzte. Die Bedienung charmant zu Groß und Klein, dazu aufgeweckt. Das Lokal gut gefüllt mit gut gelaunten Menschen. Dazu Preise, die man gerne zahlt, da als angemessen empfunden. In zwei Wochen Urlaub waren wir mehrmals zu Gast. Fünf von fünf Punkten. Unseren Besuch wollten wir, unter solchen Voraussetzungen keine Frage, in diesem Jahr wiederholen.
Nach einem Jahr war die Speisekarte noch die gleiche, aber die frische Liebe angerostet. Man begrüßte das bekannte Ambiente, jedoch irgendetwas war anders. Der Laden nur zu einem Drittel gefüllt, die Preise um ein Drittel angehoben. Der Fisch kam nicht mehr als ganzer Fisch, sondern als Filet, das auf dem Teller etwas verloren wirkte.
Die Bedienung inzwischen ausgetauscht, freundlich, aber das Gericht des 6-Jährigen wurde vergessen. So etwas vergisst ein 6-Jähriger nicht. So sehr sich die Kinder auf den tschechischen Maulwurf im Fernseher gefreut hatten, so sehr blieb die Mattscheibe diesmal schwarz. „Konec.“, dachte ich, „Das Lokal geht seinem Konec entgegen.“ Allein die Hauslimonade und der Kaffee waren die guten alten geblieben.
Retro kohvik – Drei von Fünf Punkten, mit einem Hauch Entzauberung.
Resto Hafen im Yachthafen Kuressaare
Kuressaare wäre nicht die alte Kurstadt, hätte sie nicht mehr Cafés und Restaurants zu bieten. Von einer Einheimischen bekamen wir den Tipp, das Restaurant im Yachthafen zu probieren, das den Namen Hafen trägt, was auf deutsch so viel wie Hafen bedeutet und vermutlich auch der deutschen Sprache entstammt.
Eine Marina hat etwas Golfclubbiges an sich. Elitär, mehr Schein als Sein. So mein Vorurteil, auf das ich heute nicht stolz bin. Aus der Nähe betrachtet, besser gesagt, von drinnen, zeigte sich das Resto Hafen von seiner nahbaren Seite. Eine helle Atmosphäre dank einer Fensterfront zur Hafenseite. Eine Spielecke, die von unseren Kindern im Sturm erobert wurde – im Spiel vergaßen sie ihren Hunger. Wer mit Kleinkindern ins Restaurant geht, weiß solche Ecken zu schätzen. Die Bedienung empfängt die Gäste mit einem Lächeln.
Die Inneneinrichtung folgt einem maritimen Konzept, welches mit Leichtigkeit aufgeht. Die Speisekarte ist übersichtlich mit erlesenen Wahlmöglichkeiten. Vegetarisches, Fisch und Fleisch. Köstlich für Auge und Gaumen zubereitet. Eine moderne estnische Küche, jedes an den Tisch gebrachte Gericht ist wie eine Auszeichnung, die der Gast erhält. Die Liebe zum Detail bezeugt Respekt vor Essen und Essendem. Die Gerichte sind exklusiv und halten jedem Vergleich mit gehobenem Standard stand, aber ohne die Attitüde. Die Preise sind moderat und damit familienfreundlich.
Als ob der Hauptgang nicht schon köstlich wäre, die Nachspeisen erhalten den Eindruck, den man zuvor gewonnen hat: Hier wirken Menschen, die ihre Arbeit nicht nur lieben, sondern auch virtuos beherrschen.
Wer in Kuressaare weilt, muss hier gegessen haben. Wir waren mehrmals zu Besuch.
Resto HAFEN – Fünf von Fünf Punkten, mit Kusshand und Goldrand.
Lümanda Söögimaja – Essen wie bei Michel aus Lönneberga
Das Söögimaja im Dorf Lümanda ist eine Legende. Der Gegenentwurf zu jedem hipsteresken Restaurant, urig in einer ehemaligen Sonntagsschule untergebracht. Die Einrichtung grobschlächtig aus massivem Holz, im Hintergrund läuft Musik, oder das, was die Moderatoren eines Schlagersenders für Musik halten.
Das Wort Söögimaja übersetze ich ins reine Deutsch mit den Worten „Haus des Essens“. Die seit 20 Jahren unveränderte Speisekarte und Inneneinrichtung, wollen nur eins, schmackhaftes estnisches Bauernessen aus der Region servieren.
Dieses Essen basiert auf Rüben, fermentiertem Weißkohl, besser bekannt unter der Bezeichnung Sauerkraut, fangfrischem Fisch vom Tag, Räucherspeck und Schweinefleisch und, vor allen Dingen, Kartoffeln. Gekochte Kartoffeln, gebratene Kartoffeln, gestampfte Kartoffeln, Kartoffelfrikadellen und Kartoffeln als Salat. Das ganze in großen Portionen, die noch nie jemand schon beim ersten Versuch aufessen gekonnt haben kann. Meine Meinung. Das Söögimaja hat sich darauf eingestellt, dass die Reste eingepackt und mitgenommen werden.
Die Zutaten sind aus den Gärten und Ställen der Umgebung, wenn nicht des Dorfes selbt, und aus dem Meer vor der Tür. Es ist damit unfreiwillig von unbelasteter Bioqualität. Damit rühmt sich das Lümanda Söögimaja nicht, das ist einfach so. Die Gerichte sind auf bäuerliche Weise ungepfeffert und wenig gesalzen, aber teilweise gut gedillt.
„Ich fing an mit Pfannenbrot, Kartoffelbrei, Bratensauce und eingelegtem Hering – mit einfachem Essen, mit dem wir aufgewachsen sind.“, sagt die Betreiberin Juta Pae in einem Interview. „‚Wer soll herkommen, um das zu essen?‘, sagten viele, die an der Idee zweifelten. Diese Gerichte stehen nun seit 20 Jahren auf der Karte und sind der Grund dafür, warum die Leute einen langen Weg über die Ostsee nehmen, um uns zu finden.“
Dankesbriefe und Auszeichnungen verschiedener Ministerien Estlands hängen an der Wand, manche datiert auf das Jahr 1998, andere sind jüngeren Datums. Man dankt der Betreiberin für die Verdienste um die Pflege der insularen Bauernküche und -kultur. Man dankt für die entwaffnende Einfachheit der Speisen, die unglaublich schmackhaft sind und den Besucher an weniger komplizierte Tage seiner Kindheit denken lassen. Gäste aus dem gesamten nordeuropäischen und, nicht minder, dem deutschsprachigen Raum, dürften sich geschmacklich an ihre Ur-Instinkte gerührt fühlen. Es wird eine Leib- und Gemütsspeise geboten, die nicht nur durch die Dankesbriefe, sondern auch durch viele Besucher, ausländische wie einheimische, verbürgt wird.
Wir haben den 30 Kilometer langen Weg von Kuressaare mehrmals gerne auf uns genommen.
Lümanda Söögimaja – Fünf von fünf Punkten, mit Extraklecks Kartoffelbrei, den Rest einpacken, bitte.
Der Meteoriteneinschlag in Kaali ist tatsächlich nur eine Legende. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass der Riese Suur Töll mit gewaltigen Findlingen nach seinem Widersacher Vanapagan warf, dem bösen Unterweltgott, der die Bewohner der Insel terrorisierte. Dabei entstanden die Löcher in der Erde, die so tief sind, dass sie ständig mit Wasser gefüllt sind, wenn sie nicht gerade zugefroren sind.
ap