Sami sind keine Touristenattraktion
Klimawandel: Früher war der Schnee anders
Osmo kommt mit dem Motorschlitten angefahren. Die Ohrschlappen der Fellmütze flattern hin und her, als würden sie uns winken wollen. Osmo Seurujärvi ist Sami und Rentierzüchter in der Region Inari (Lappland). Bis zu sieben Monate im Jahr liegt hier Schnee. Und Osmo kennt wie seine Vorfahren alle seine unterschiedlichen Arten, Formen und Zustände. Doch seit einigen Jahren hat sich der Schnee verändert. Spricht Osmo von diesem neuen, fremden Schnee, spürt man seine Besorgnis. Der Winter ist unberechenbarer geworden. Und das bedroht die traditionelle Lebensweise der Sami.
Einige junge Rentiere hat er in einem weitläufigen Gehege nahe seines Wohnhauses. Wir wollen sie gemeinsam füttern. Doch Rentiere sind scheue, halbwilde Herdentiere. Osmo will sie mit Hilfe seines Motorschlittens zusammentreiben. Doch so eine Horde wie wir im halben Dutzend sind für die Jungtiere zu viel auf einmal. Sie weichen zurück, verschwinden im Laufschritt aus unserem Blick. Zu viel Mensch auf einmal. Osmo geht ihnen nach. Mit seinen weichen Fellschuhen kommt er leiser und schneller voran als wir. Er bedeutet uns, still zu sein und zu warten.
Kurze Zeit später trappeln sie in der Herde geschlossen an uns vorbei. Unsere Anwesenheit ist ihnen nach wie vor nicht geheuer. Und wir wollen sie nicht stressen. Also ziehen wir uns weiter zurück. Verhalten uns ruhig und warten.
Osmo ruft die Rentiere mit einer Mischung aus Schnalz- und gesungenen Lauten. Laute, wie ich sie nicht nachmachen könnte. In der linken Hand trägt er einen Sack mit Rentiermoos. Leckereien für den Nachwuchs.
Osmo ist ein freundlicher, ein ruhiger, besonnener und überlegter Mensch. Zunächst kommt kaum eine Antwort von ihm. Die Worte verlassen nur zögerlich seinen Mund. Er überlegt. Macht Pausen. Aber dann merkt man, wie er seine Antwort Wort für Wort, Gedanken für Gedanken entwickelt. Es dauert ein wenig, bis die ersten Worte aus seinem Mund kommen, erst verhalten und dann immer flüssiger. Er erklärt, relativiert, grenzt ein und verdeutlicht. Damit wir Nicht-Rentier-Menschen die Rentier-Menschen besser verstehen.
Rentiere haben keine Namen, aber Bezeichnungen
Sami sind keine Touristenattraktion. Ein altes Volk, das schon so lange dieselben Flecken Erde bewohnt, in tiefer Verbundenheit mit der Natur. Ihre äußerlich sichtbare Verbindung zur Natur ist das Rentier. Alte Wege, altes Wissen, über Generationen weitergegeben und in den Genen abgespeichert. Trotz zwangsweiser Christianisierung immer noch Reste eines mystischen Volksglaubens in sich tragend.
Nach einigem Zögern sammeln sich die jungen Rentiere um einen Schlitten, in dem Futter liegt. Im Pulk laufen sie von links nach rechts, von rechts nach links. Ein Rentier verheddert sich beim Richtungswechsel im grobmaschigen Zaun, Osmo eilt ihm zur Hilfe und befreit es behutsam. Und wie er das Tier anfasst, einerseits mit großer Kraft, andererseits mit von Klein auf gelernten Griffen, spürt man sofort, Osmo ist nicht nur Fachmann, er liebt seine Tiere.
Ob sie auch Namen haben, möchte ich wissen. „Nein,“ antwortet Osmo mit einem leichten Lächeln, „meine Rentiere haben keine Namen.“ Dennoch kennt er seine Tiere genau. Zum einen natürlich an der Ohrmarkierung. Jeder Rentierzüchter hat sein ganz eigenes, unverwechselbares Kennzeichnen. Aber auch an ihrer Zeichnung und an ihrem Verhalten. Um sich jedoch über die Eigenheiten der Tiere zu unterhalten, braucht es dann doch so etwas wie Namen. „Sie heißen aber nicht Matti oder Sandra, eher dann poikki sarvi oder leviä sarvi oder huutomerkki, also alles Wörter für spezifische Fellzeichnungen oder auch Beschreibungen des Geweihs.“
Rentiere wechseln ihre Augenfarbe
Und dann fragt er mich, ob ich sie füttern möchte. Na klar möchte ich. Wir knien uns also in den Schnee und bieten den Rentieren auf der flachen Hand getrocknetes Moos an. Die Neugier besiegt ihre Angst und die ersten kommen scheu auf uns zu.
Ihre Schnauzen sehen ganz weich aus. Pulverschnee klebt an ihren samtigen Schnauzen, wodurch sie ein wenig den Eindruck von kleinen Kindern mit Nutella verschmiertem Mund machen. Nur eben in weiß. Doch sie sind so vorsichtig, dass sie meine Hand gar nicht berühren. Zupfen mir einfach das Moos aus der Hand, weichen ein paar Schritte zurück und fangen genüsslich an zu mampfen.
Mit ihren weichen Hufen schweben sie scheinbar lautlos über den Schnee. Und ich lerne, dass die Augen nur im Winter so blau aussehen. Rentiere können nämlich die Hintergrundfarbe ihrer Augen je nach Jahreszeit verändern: im Sommer sind sie gelblich, um besser gegen Sonneneinstrahlung geschützt zu sein. Im Winter dagegen mehr bläulich.
Das weiße Rentier gehört seiner Tochter. „Ich habe es ihr zum Geburtstag geschenkt – als Geschenk der Familie,“ sagt Osmo. Und kurz kommt mir der Gedanke, wie mein Kater zuhause wohl auf so ein Rentier reagieren würde. Ob sie sich verstehen würden? Später erfahre ich, dass Osmos Frau auch gerne Katzen hätte. Aber sie haben ja schon vier Hunde, da sei für Katzen kein Platz.
Die Hunde räkeln sich unterdessen auf dem Holzboden vor dem Fernseher, die Wärme lässt sie müde werden. Nur mit Mühe können sie ihre Augen offenhalten – erfordert doch der fremde Besuch immerhin ein aufmerksames Auge.
Osmo zeigt uns, wie er moderne Technik einsetzt, um seine Herde zu orten. Seine Frau wirft ab und zu etwas ins Gespräch ein. Ergänzungen. Die Tochter versucht die Hunde zum Spielen zu bewegen, der Sohn schaut im Fernsehen einen Skiwettbewerb an.
Das Haus ist brandneu. Ein modernes Holzhaus, sehr hell, erst im vergangenen Sommer haben sie es bezogen. Osmos Familie lebt schon immer hier auf diesem Grund. In diesem Wald. Fern ab von der großen Straße, die nach Inari führt. Schon seine Großeltern haben hier Rentiere gehalten.
Der Schnee ist anders geworden
Heute funktioniert das in mancher Hinsicht einfacher. Denn es gibt Motorschlitten, Handy und GPS. Drei seiner Rentiere haben so ein GPS-Halsband, mit dem er sie orten kann. Er zeigt uns auf seinem Laptop, wo sie sind. Ein rotes Dreieck taucht auf einer Karte am Bildschirm auf, wie ich es von Wanderkarten kenne.
Osmo sagt, „Oh, die sind ganz schön weit nach Osten gezogen.“
Das gab es früher nicht. Da musste ein Rentierzüchter wissen oder spüren oder ahnen, wo seine Tiere sind.
„Früher, da waren die Winter kälter. Und der Schnee war anders als heute. Lockerer, weicher, softer.“ So weich, dass junge Kälber es als Nest nutzen konnten, sagt Osmo.
Mittlerweile sei der Schnee von anderer Konsistenz, was den Rentieren zu schaffen mache. Das Fortbewegen im Schnee sei trotz ihrer breiten weichen Hufe heute beschwerlicher. Denn die Winter seien insgesamt wärmer. Dadurch taut der Schnee an und gefriert bei kälteren Temperaturen wieder. Das lässt ihn hart werden.
Auch sei kein Verlass mehr aufs Wetter, die Vorhersagen schwieriger. Für ihn deutliche Zeichen des globalen Klimawandels, der sich in den arktischen Regionen spürbar deutlicher zeigt. Wissenschaftler liefern dafür die messbaren Beweise: die Temperaturen in Lappland steigen doppelt so schnell wie im restlichen Europa.
Auch kann sich Osmo an einen Winter vor einigen Jahren erinnern, als das Rentiermoos aufgrund von eingeschlossener Feuchtigkeit schimmelig und somit für die Tiere ungenießbar wurde. Es war verdorben, giftig regelrecht. Die Tiere wussten das und hungerten lieber.
2016 sind in Sibirien tausende Rentiere gestorben, weil ungewohnte Wetterverhältnisse den Schnee zunächst geschmolzen und anschließender Regen gefror, sodass das Hauptnahrungsmittel der Rentiere, das Moos, unter einer dicken Eisschicht lag. Schnee können sie wegkratzen. Eis nicht. Tausende starben an Hunger.
Auch Osmo und seine Kollegen reden oft über das Wetter und wie es sich verändert hat in den letzten Jahren.
Norwegische Forscher haben herausgefunden, dass die Rentiere heutzutage im Schnitt 2,5 kg weniger wiegen. Auch das eine Folge des Klimawandels.
Der Lebensraum wird eng
Neue Wirtschaftszweige wie Testworld, viele Hektar große Areale zum Testen von Reifen und Autos in der Nähe von Ivalo, machen es den Samen wie Osmo nicht leichter. „Rentiere brauchen sehr große Wandergebiete. Jede größere Baumaßnahme nimmt den Tieren Lebensraum weg. Da ist eine neue Art von Wettbewerbssituation um Land entstanden.“
Flächen werden versiegelt, Testtunnel gebaut, und sie bringen Lärm und Gestank mit sich. Zwar weit ab von bewohnten Gebieten, aber dennoch Phänomene, die die halbwilden Rentiere nicht oder nur kaum kennen. Wie das ihre Wanderzüge beeinflussen wird, ist oft Gesprächsthema unter den Rentierhaltern.
Oder die neue Eisenbahn, die zwischen Rovaniemi und Kirkenes geplant ist. Sie würde die Heimat der Sami in zwei Teile schneiden. Und wie die Rentiere darauf reagieren, ist völlig unklar. Was aus ihren langen Wanderungen würde. Uralte Wege. „Niemand weiß es,“ sagt Osmo. Selbst wenn man Tunnel für die Rentiere unter den Gleisen bauen würde: „Wir wissen nicht, ob das funktionieren würde. Wir haben keine Erfahrungen damit.“
15 Stunden ist Osmo im Schnitt jeden Tag draußen. „Gerade im Winter sind es lange Tage. Von Oktober bis April habe ich keinen Tag frei. Da komme ich manchmal erst abends um 10 Uhr nach Hause.“ Denn dann muss er häufiger nach den Rentieren sehen, manchmal diese oder jene in eine andere Richtung treiben, Futter an entlegenen Stellen auslegen, je nach Wetterlage.
„Ja, der Klimawandel macht mir Angst. In den vergangenen Jahren kam der Schnee, der die Rentiere gut trägt, ein bis zwei Monate zu früh. Das macht unsere Arbeit viel schwieriger,“ sagt Osmo. Auch muss er mittlerweile häufiger Heu zukaufen, damit die Tiere nicht hungern. Und trotzdem gibt es viel weniger Kälber im Frühjahr, beklagt er.
Lebensweise der Sami droht zu verschwinden
„Es ist eine harte Arbeit, ein hartes Leben,“ sagt Osmo. „Aber ich mache es gern.“ Es scheint eine Art Bestimmung zu sein, habe ich den Eindruck. Die Traditionen und Lebensweise der Eltern, der Großeltern, der Vorfahren fortsetzen, weiterführen und somit am Leben erhalten.
„Hier gab es früher sogar eine Schule“, sagt Miina, seine Frau, nicht ohne Stolz in der Stimme. Heute gebe es keine mehr. Nur drei Familien hier haben Kinder, sagt sie achselzuckend. Ihr Satz bleibt im Raum hängen. Eine kurze, beklemmende Stille entsteht. Wie eine dunkle Wolke, die plötzlich aufgezogen ist.
Die Sami, letztes indigenes Volk in Europa, sind vom Aussterben bedroht. Von Helsinki, dem Sitz der Regierung, erwarten sie keine Hilfe. Und ihr eigenes Sami-Parlament, das viermal im Jahr in Inari tagt, hat keine laute Stimme. Kann sich in der Hauptstadt kaum Gehör verschaffen.
Dass in den Schulen wieder auf samisch unterrichtet wird, ist wichtig und gut, sagt Osmo. Da fühlt er sich von der Regierung in Helsinki gut unterstützt. Dass ihre eigene Kultur vom Aussterben bedroht sei, glaubt Osmo nicht. Das läge zum Glück nicht in den Händen der Zentralregierung, sondern in ihren eigenen.
Interview mit Osmo (Video)
Jung, stolz und aufmüpfig
„Wir haben nicht mal ein Sekretariat,“ sagt dagegen die Präsidentin des Sami Parlaments Tiina Sanila-Aikio. Sie gehört zur neuen Generation der Sami: jung, stolz und ein bisschen aufmüpfig.
Sie reist viel, spricht auf Konferenzen, gibt Interviews. Aufmerksam machen auf die sehr spezifischen Probleme der Sami, das ist ihr Hauptaugenmerk. Aufmerksam machen aber auch auf einen rücksichtsvollen und nachhaltigen Umgang mit der kostbaren Natur.
„Wir Sami haben einen intensiven Bezug zur Natur, wir sind Teil der Natur und nehmen uns nur das, was wir selbst zum Leben brauchen. Der Zuzug von Menschen, der Tourismus und andere neue Phänomene der Moderne haben die Balance aus dem Gleichgewicht gebracht.“ Wilde, unberührte Natur, werde immer weniger, beklagt Tiina, die vor ihrer Präsidentschaft Rocksängerin war.
„Unser gemeinsames Wissen, über Wege, Markierungen, Kräuter, Rituale und anderes mehr, droht zu verschwinden, genauso wie unsere Sprache.“ Tiina spricht drei verschiedene Sami Dialekte. Doch um manche Dialekte ist es weit schlechter gestellt: „Ich kenne eine alte Frau in der Nähe von Utsjoki. Sie ist die letzte, die den dort früher üblichen Dialekt beherrscht.“
Osmo nimmt einen letzten Schluck Kaffee, der schon längst kalt geworden ist, schnappt sich seine Fellmütze und geht nach draußen. Auf dem Treppenabsatz vor der Tür bleibt er stehen und beäugt kritisch den Himmel, an dem wieder schwere Wolken aufgezogen sind. Ja, die Winter waren früher anders.
Text, Video und Fotos von Tarja Prüss