90 Fußballfelder große Fundgrube durch die Jahrtausende
England: Haben Archäologen den römischen Vorläufer des „Touchpen“ entdeckt?
Wer in England ein Loch gräbt, hat zumindest regional ziemlich gute Chancen, auf Dinge von historischem Wert zu stoßen. Erst recht, wenn dieses Loch fast 90 Fußballfelder groß ist – so wie aktuell bei einer archäologischen Ausgrabung in der Nähe von Cambridge.
Foto 1: Der römische Griffel sieht einem Touchpen fürs moderne Tablet zum Verwechseln ähnlich. (MOLA)
Foto 2: Dieses Schaf wurde womöglich bei einem Essgelage aufgetischt. Man ließ es sich gutgehen – auch in der „platten“ Provinz. (MOLA)
Foto 3: Fragment von feinem Geschirr, das aus Nordfrankreich importiert wurde. (MOLA)
Foto 4: Die riesige Ausgrabungsstätte misst in der Fläche fast 90 Fußballfelder. (MOLA)
Die Rede ist vom Projekt „National Highways“, einem 2021 gestarteten Ausbau der Autobahn A428 in den Grafschaften Bedfordshire und Cambridgeshire, der aus gutem Grund von archäologischen Untersuchungen begleitet wird. Man wurde fündig, das schon mal vorweg.
Ziel der Forschung ist es, das ländliche Leben in Großbritannien zur Zeit des Römischen Reiches (43 n. Chr. bis 410 n. Chr.) und der direkt davor geendeten Eisenzeit (800 v. Chr. bis 43 n. Chr.) besser verstehen und einordnen zu können.
Zugleich ist es eine der größten Ausgrabungen, die jemals in der betreffenden Region stattgefunden haben. Seit Beginn der Erforschung sind sowohl außen – im Feld – als auch im Labor immer wieder neue Entdeckungen gemacht worden, die ins Zeitschema der genannten Epochen passen.
Deutliche Anzeichen für luxuriöse Ausschweifungen zur Römerzeit
Für Aufsehen sorgten nun neue Entdeckungen, die als recht eindeutige Belege dafür anzusehen sind, dass hier, tief in der britischen Provinz, zur Römerzeit ein mitunter luxuriöses und auch erstaunlich fortschrittliches Leben geführt worden ist.
Zudem zeugen bei den Ausgrabungen geborgene Artefakte von der Vernetzung des römischen Handelsnetzes bis in fast alle Ecken Kontinentaleuropas. Dafür spricht beispielsweise teures Tafelgeschirr, dessen Ursprung in Nordfrankreich liegt.
Und dafür sprechen die gefundenen Fragmente von Amphoren, die einst wahrscheinlich kostbares Olivenöl aus Spanien enthielten. Wein hingegen baute man den Forschungsergebnissen zufolge selbst an, wofür Laborbefunde von Bohrkernen sprechen. Darin konnten Traubenpollen identifiziert werden.
Lorraine Bennetts, leitende Projektmanagerin, dazu: „Diese unglaublichen Entdeckungen zeigen uns, dass Bedfordshire und Cambridgeshire schon vor vielen Jahrhunderten überraschend gut mit anderen Regionen in Großbritannien und Europa verbunden waren.“
Ferner fanden die Archäologen des Museum of London Archaeology (MOLA) auch Spuren von Völlerei. Dafür sprechen Hinweise auf antike Feste, die in der Region gefeiert wurden – mit ordentlich Fleischbeilage auf dem Tisch, von Schafen und Schweinen.
Es gibt also reichliche Anzeichen dafür, dass man es sich zur Römerzeit bei entsprechendem Status und Geldbeutel auch auf dem platten Land etwa 100 Kilometer nördlich von London (Londinium) richtig gut gehen lassen konnte.
So gut (und vernetzt) jedenfalls, dass es die Erwartungen der Forscher deutlich übertroffen hat. Dazu Simon Markus, MOLA-Projektleiter: „Diese Ausgrabungen sind sehr aufregend und geben uns die ungewöhnliche Möglichkeit, eine ganze antike Landschaft zu verstehen.“
Besonderer Fund: Ein Füller wie ein Touchpen fürs Tablet – nur eben ca. 1800 Jahre alt
Ein optisch schon fast surreal neuzeitliches Artefakt fanden die Archäologen dann auch noch: Einen Füller, der einem Touchpen fürs Tablet zum Verwechseln ähnlich sieht. Und nicht nur das, auch die Anwendung dürfte durchaus ähnlich gewesen sein, wie der Cambridge Independent schreibt.
Demnach nutzten die Römer das filigrane Schreibutensil, um Texte oder Zahlen auf einer Wachstafel sichtbar zu machen. Dazu hatte der Griffel ein spitzes Ende, mit dem geschrieben wurde. Und ein eher trapezförmiges Ende, um das Geschriebene durch Glätten der gewachsten Oberfläche wieder zu löschen.
Ein ziemlich digitaler Ansatz also, wenn man so will. Die Darstellung oben in der Bildergalerie lässt gut erahnen, wie „nah“ das Artefakt bei den Stiften ist, die heute das Schreiben auf Bildschirmen und dem Handy vereinfachen. Ziemlich faszinierend.
Interessanterweise fanden sich aber auch andere Spuren, die zeigen, dass es in den Regionen Bedfordshire und Cambridgeshire schon früh weit fortschrittlicher zuging, als bislang von der Forschung angenommen wurde.
Dazu muss man wissen: Bis vor kurzem waren steinerne Pfeilspitzen die ältesten Belege für (einfaches) menschliches Leben in der Region. Sie wurden kleinen Jagdgruppen zugeordnet, die sich hier vor rund 3000 Jahren durchkämpften.
Nicht annähernd zu diesem Bild passen die nun gefundenen Hinweise auf ein ungewöhnliches Webstuhlgewicht, das die MOLA-Archäologen auf der riesigen Stätte entdeckt haben. Es dürfte zur bronzezeitlichen Herstellung von Stoffen verwendet worden sein.
Datiert wurde das Fundstück auf die Zeit von etwa 2500 bis 800 v. Christus, was wiederum bedeuten könnte, dass zumindest privilegierte Menschen das Leben in Zentralengland schon weit vor der Römerzeit zu schätzen wussten. Es gab jedenfalls mehr als nur Pfeil und Bogen.
Das spannende Projekt läuft voraussichtlich noch bis 2027. Danach wird das Bild vom römischen und vor-römischen Leben auf dem britischen Land mit Sicherheit um weitere wertvolle Erkenntnisse reicher sein.