„Der Norden Europas ist ein magischer Ort“
Mysteriöse Stätte in Finnland: Womöglich 6.500 Jahre alter Großfriedhof entdeckt – direkt am Polarkreis
Wenn die plausiblen Indizien in diesem Fall stimmen, muss die Archäologie wohl mit völlig neuem Blick auf den hohen Norden Europas schauen. Oder anders: In Lappland, etwa 50 Kilometer südlich des Polarkreises, bahnt sich gerade so etwas wie eine kulturhistorische Sensation an.
Bilder 1 bis 4: Aki Hakonen / Antiquity Publications
Dabei ist die Stätte Tainiaro, um die es geht, schon seit 1959 bekannt. Damals waren es örtliche Arbeiter, die beim Sandabbau in dieser klimatisch nur bedingt menschenfreundlichen Region auf eine Sammlung steinzeitlicher Artefakte stießen.
Bis zu den ersten Ausgrabungen vergingen danach merkwürdig lange Jahre. Erst 1984 soll die finnische Denkmalschutzbehörde mit Mann und Material angerückt sein, um zumindest mal einen Anfang zu machen.
Aber mangelnde Ressourcen und möglicherweise auch ein Mangel an Interesse führten dazu, dass einerseits die Ausmaße und andererseits das historische Potenzial von Tainiaro Jahrzehnte lang nicht im Ansatz erkannt / erforscht wurden. In der Konsequenz dümpelte die Stätte vor sich hin.
Wohl auch, weil man lange nicht für möglich hielt, an einem derart weit im Norden gelegenen Punkt auf Dinge zu stoßen, die archäologisch von höchster Relevanz sind. Doch genau das könnte, nein, scheint der grundfalsche Ansatz gewesen zu sein.
Denn nach neuesten Untersuchungsergebnissen dürfte Tainiaro kein mehr oder minder unbedeutender Flecken Erde sein, sondern ein Jäger- und Sammlerfriedhof riesigen Ausmaßes. Noch dazu um die 6.500 Jahre alt, was die Stätte potenziell zu einem Superlativ macht.
Die Stätte stellt alle bisherigen Entwicklungsvorstellungen vom hohen Norden Europas in Frage
Konkret: Stimmen die neuen Annahmen der Forscher, handelt es sich – bezogen auf das Alter – um die größte bisher entdeckte Fundstelle dieser Art in Nordeuropa. Und – bezogen auf die Lage – auch um das nördlichste vergleichbare Gräberfeld aus dieser Zeit.
Zwar sind viele Fragen zu Tainiaro noch unbeantwortet. Aber allein die Tatsache, dass es in der Nähe des Polarkreises ein derart großes Gräberfeld gegeben zu haben scheint, ist schon überraschend und stellt so gut wie alle bisherigen Entwicklungsvorstellungen vom hohen Norden Europas in Frage.
Anders als bei den allermeisten Annahmen deutet sich dank der neuen Erkenntnisse an, dass schon sehr früh in der Zivilisationsgeschichte Europas in einer der sprichwörtlich kältesten Regionen überhaupt große und womöglich komplexe Formen des Zusammenlebens existierten.
„Ich denke, die eigentliche Bedeutung liegt in unserem kulturellen Kompass“, teilte Archäologe Aki Hakonen von der Universität Oulu in Finnland dieser Tage in einem Pressestatement zur Veröffentlichung seiner Ergebnisse mit.
„Wir erwarten, dass wir weniger interessante Dinge finden, je weiter wir nach Norden kommen. Aber der Norden Europas ist ein magischer Ort, der viele Überraschungen birgt – und Tainiaro ist wohl nur eine davon“, zitiert ihn Newsweek.
„Den hohen Norden archäologisch nicht als Rand-, sondern als Kerngebiet betrachten
„Wenn sich die Archäologie darauf besinnt, den hohen Norden nicht als Rand-, sondern als Kerngebiet zu betrachten, werden wir Zugang zu einem viel umfassenderen Verständnis der Vergangenheit der Menschheit erhalten“, lautet Hakonens Überzeugung.
Das Problem: Der finnische Boden ist zu sauer, als dass sich nach 6.500 Jahren noch menschliche Überreste finden ließen. Daher leiten die Forscher ihre Annahmen aus Struktur- und Größenvergleichen mit anderen steinzeitlichen Grabfeldern ab. Aber das ist nur die eine Seite.
Die andere: Es gibt alte Erwähnungen zu Tainiaro, wonach die Stätte, so sie denn ein Friedhof war, etwa 30 bis 40 Bestattungen „groß“ gewesen sein könnte. Antike Gruben, die im Boden identifiziert wurden, interpretierte man damals versuchsweise als Gräber.
Für die neueste Studie überprüften Hakonen und seine Kollegen die verfügbaren Beweise auf die Gültigkeit der Friedhofshypothese. Außerdem führten sie neue Feldforschungen durch, darunter auch Testgrabungen, die nun ein umfassendes Bild der Stätte ergeben.
Die Forscher sehen aktuell 44 der in Tainiaro vorgefundenen Gruben als Bestattungen. Vor allem, weil sie in ihrer Form mit denen übereinstimmen, die in vergleichbar alten Gräbern in anderen Teilen Nordeuropas gefunden wurden. Laut Hakonen spricht dies klar für die Interpretation der Stätte als Friedhof.
Bislang nur ein Fünftel der Fläche ausgegraben – es gibt also potenziell viel mehr Gräber
Aber: Bislang wurde nur rund ein Fünftel der Fläche ausgegraben, sodass die Gesamtzahl der Gräber bis zu 200 betragen könnte. Und die Gesamtzahl der bestatteten Personen könnte sogar noch höher sein, wenn mehrere Personen in einem Grab beigesetzt wurden.
„Nachdem wir alle Feldzeichnungen digitalisiert und eine vollständige Kartierung der ausgegrabenen Bereiche erstellt hatten, wurde klar, dass es weit mehr als die etwa 40 Gräber geben muss“, schildert Hakonen den harten Kern seiner Forschung.
Die Zahl der in Tainiaro bestatteten Personen dürfte laut seiner Schätzung irgendwo zwischen 120 und 300 liegen. „Das allerdings passt überhaupt nicht ins Gesamtbild, denn ohne Tainiaro liegt die Gesamtzahl der in Finnland entdeckten steinzeitlichen Gräber bei 210“, so Hakonen.
Vor ihm liegt viel Arbeit. Aber er ist sich sicher: „In Zukunft müssen viele Forschungen zu dieser Epoche im Norden gewissermaßen neu bewertet werden, da die Gesellschaften möglicherweise längst nicht so klein waren, wie wir es bisher immer angenommen haben.“ Überaus spannend.