Drei Norwegische Buch-Neuerscheinungen
Die Bücherwelle aus den Fjorden
Für Nordeuropafans war die Bekanntgabe des Gastlandes Norwegen auf der Frankfurter Buchmesse 2019 eine erfreuliche Nachricht. Bedeutet doch ein Gastlandauftritt immer auch eine erhöhte Anzahl an Übersetzungen für den deutschen Buchmarkt und neue Leseimpulse für Literaturliebhaber.
Und tatsächlich fluten dieses Jahr norwegische Neuerscheinungen die deutschen Buchhandlungen. Wo man zuvor die üblichen Verdächtigen wie Knausgard und Nesbø fand, tauchen im Programm der großen und kleinen Verlage in den vergangenen Monaten vermehrt hierzulande auch unbekannte Namen auf.
Die Anzahl der im Zuge des Gastauftritts übersetzten Bücher aus dem Norwegischen ist in Deutschland so groß wie noch nie, NORLA (Norwegian Literature Abroad) alleine zählt 250 Titel dieses Jahr auf, die von der Organisation finanziert und gefördert worden sind. Meine fixe Idee, alle norwegischen Neuerscheinungen dieses Jahres zu lesen, erwies sich schnell als ebenso aussichtsreich wie einen toten Fisch unter den Wasserhahn zu halten.
Immerhin wurde mein Stapel der ungelesenen Bücher in den vergangenen Wochen zunehmend norwegischer, die ersten drei Romane sind bereits verschlungen, weitere kommen als Nachspeise.
Die Einsamkeit der Seevögel – Gøhril Gabrielsen
Was im Titel nach schwerer Kost klingt, ist der erste ins Deutsche übersetzte Roman der preisgekrönten Autorin aus Oslo, und ist alles andere als schwer verdaulich.
In kurzen Kapiteln, gleich einem Tagebuch, wird die Geschichte aus der Perspektive einer jungen Wissenschaftlerin erzählt, die sich im Winter alleine in die Finnmark begibt, um weitab der Zivilisation Forschungen zum Einfluss des Klimawandels auf die Seevögelpopulation vorzunehmen. Dabei ist es nicht nur der akademische Wissensdrang, der sie in den Norden treibt, sondern ebenso ihr Privatleben, das durch eine unglückliche Trennung von ihrem Exmann und Vater des gemeinsamen Kindes, sie das Weite suchen lässt. Eine Affäre mit einem Vater aus dem Kindergarten der Tochter verkompliziert die Sache.
Im Zuge des Aufenthalts in der winterlichen Einöde entgleitet die Wahrnehmung der Erzählstimme in der Einsamkeit jedoch immer mehr, verliert sich in Rückblicken, die nicht nur ihre Ehe und deren Scheitern beleuchten, sondern, sich immer tiefer in die Figuren verstrickend, zu feinstem Kopfkino auch beim Leser führen. Ein Psychogramm wie ein Krimi, nicht nur weitab von jeglicher Zivilisation, sondern auch aller Liebesschnulzen.
Die Einsamkeit der Seevögel*, Roman, Insel Verlag
Gebundenes Buch, 174 Seiten, erschienen am 12. August 2019
Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte – Mona Høvring
Die zwei Schwestern Martha und Ella, die nur ein Jahr trennt, wachsen symbiotisch wie Zwillinge auf, bis die Hormone die schwesterliche Verbindung jäh trennen und Martha Hals über Kopf mit einem Mann nach Dänemark verschwindet. Als die Schwester nach einigen Monaten des Kontaktabbruchs wieder zuhause erscheint, ist sie in einem so schlechten geistigen Zustand, dass nach einem Aufenthalt in einem Sanatorium die Familie beschließt, die beiden Schwestern in einem luxuriösen Berghotel zu einer Art Kur zu schicken. Jedoch verläuft der Aufenthalt ganz anders als geplant.
Høvring erzählt in ihrem Roman aus der Perspektive der jüngeren Schwester Ella in kurzen Kapiteln vom Erwachsenwerden und dem sich Lösen aus familiären Strukturen, und zwar so fesselnd, dass ich das Buch mit seinen knapp über 100 Seiten in einem Rutsch durchlesen musste.
Weil Venus bei meiner Geburt ein Alpenveilchen streifte*, Roman, Verlag edition fünf
Gebundenes Buch, 136 Seiten, erschienen am 26. August 2019
Maria Kjos Fonn – Kinderwhore
Charlotte wächst als Einzelkind bei einer Mutter auf, die schon mit ihrer eigenen Existenz überfordert ist. Zwischen Depressionen, Parties und Drogen bringt sie immer wieder wechselnde Partner mit nach Hause. Die ein- und ausgehenden Kurzzeitstiefväter sind dabei mal mehr mal weniger für diese Rolle geeignet. Bis, als Charlotte 12 Jahre alt ist, einer darunter ist, der länger bei der Mutter bleibt. Nachts schleicht er in das Zimmer der Tochter, um sie sexuell zu missbrauchen. Immer wieder.
Charlotte, die zuvor noch versuchte, ein halbwegs normales Leben zu führen, mit Sorge um die Mutter und Erfolg in der Schule, fällt durch diese traumatisierende Erfahrung vollständig aus dem gesellschaftlichen Leben. Auch als der missbrauchende Stiefvater aus dem Leben von Mutter und Tochter verschwindet, wird nichts gut.
In Kinderwhore beschreibt Kjos Fonn aus der Sicht von Charlotte die Folgen von Traumatisierung so eindrücklich und schonungslos, dass ich als Leserin mich mitbetroffen fühlte.
Kinderwhore*, Roman, CulturBooks Verlag
Gebundenes Buch, 256 Seiten, erschienen am 1. September 2019
Schlimme Helena
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