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Engländer sprechen über Europa wie über ein Land in weiter Ferne

Brief aus dem zerrütteten Britannien

Wie soll ein Land, in dem sich zwei Seiten nur beschimpfen, die tiefe gesellschaftliche Spaltung überwinden? – Dies ist das dritte Mal, dass ich zu diesem Brief an euch, Kontinentaleuropäer, ansetze. Es passiert zu viel bei uns England, als dass ich in der Lage wäre, alles zu dokumentieren. Der Stoff findet kein Ende, genau wie das Brexit-Drama. Immer wenn ich denke, das Trauerspiel um den Brexit kann nicht mehr schlimmer werden, werde ich eines Besseren belehrt. Letzte Woche hat wieder einmal gezeigt, dass der Stand der Dinge sich täglich ändert.

Brexit Brief aus England
Wird es bald zappenduster im Parlament des Vereinigten Königreichs?
(Symbolbild: Adam Derewecki)
Am Dienstag kam die einstimmige Entscheidung von Großbritanniens oberstem Gericht, dass der Beschluss von Boris Johnson, das Parlament in eine fünfwöchige Zwangspause zu schicken, nicht rechtens sei.

Doch statt sich gedemütigt oder gar reuevoll zu zeigen, reagierte Boris Johnson mit einem Angriff. Das neue Gesetz, das verhindern soll, dass das Vereinigte Königreich die EU ohne Abkommen verlässt, nennt er provokativ surrender bill. Er interpretiert es wie folgt: „Wir liefern uns an die EU aus und sind von deren Entscheidung abhängig“.

Dass er damit die Massen noch mehr spaltet und neuen Hass schürt, bestreitet er, ohne mit der Wimper zu zucken. Diese Taktik hat er sich vielleicht von Trump abgeguckt, mit dem er sich auch seinen Geburtsort teilt. Oder hat Dominic Cummings, sein Berater, da das Mitreden? Dieser hat schon die Leave-Kampagne geleitet und Falschinformationen ans Volk gebracht.

Parlamentsmitglieder erhalten Morddrohungen, man denkt unwillkürliche an Jo Cox, die 2016 ermordete Politikerin, die sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU engagierte. Johnson sagt lapidar, um Cox zu würdigen, sollte der Brexit schnell vollzogen werden. Damit verstärkt er die Wut der Opposition, was er wahrscheinlich auch bewirken will.

Er möchte wohl, dass der Teil des Volkes, der für den Brexit gestimmt hat (also grob die Hälfte aller damals Wahlberechtigten), wütend auf die Parlamentarier ist. Das böse Parlament, das den Willen der Bevölkerung ignoriert. Volk gegen Elite, und Boris vertritt ironischerweise das Volk. Wer den erlösenden Brexit will, muss sich an Johnson halten.

Wie heuchlerisch das alles ist, wird den Leavers nicht klar, da sie immer wieder mit neuen, auf den ersten Blick überzeugenden Lügen gefüttert werden. Die Tatsache, dass das jetzige Parlament nach dem Brexit-Referendum gewählt wurde und damit die gespaltene Bevölkerung vertritt, wird nicht erwähnt. Erwähnt wird hingegen immer wieder, das Volk habe Brexit gewählt. Der Wille der Bevölkerung müsse respektiert werden.

Spott und Spaltung

Da Johnson seine Mehrheit im Parlament verloren oder entlassen hat, stellt er sich nun mit allem ihm noch Verfügbaren gegen die Remainer im Parlament, die von den Leavers provokativ „Remoaner“ genannt werden.

Dass er sich damit gegen die Hälfte der Bevölkerung stellt, scheint ihn nicht zu stören. Die Remainer in der Bevölkerung müssten sich bei Neuwahlen schön verteilen auf Lib Dems, die Grünen und z.T. auch Labour, wohingegen die Leavers überwiegend Johnsons Tories wählen würden. Dies zumindest war sein Plan, direkt nachdem er seine Mehrheit im Parlament verloren hat. Doch die Opposition durchschaute den Plan und stimmte gegen die Neuwahlen, woraufhin sie natürlich von Johnson wieder stark kritisiert wurde.

Falls Johnson es nun nicht schafft, bis zum 31. Oktober den Brexit zu vollziehen, könnte Nigel Farage von der Brexit Partei bei den besagten Neuwahlen kandidieren. Was dann passieren würde, passt in keinen Brief, könnte für die Tories aber von Nachteil sein.

Sie sprechen über Europa wie über ein Land in weiter Ferne

Da ich in diesem Chaos-Land wohne und meinen Sohn hier großziehe, frage ich mich oft, was wohl die Lösung für diesen ganzen Wahnsinn sein könnte. Wie können die Fronten aufgelöst werden, wie kann ein Bürgerkrieg (ein wenig dramatisch, aber nicht ausgeschlossen) verhindert werden? Hier bin ich nun.

Natürlich haben sich viele Briten nie als wirkliche Europäer gesehen. Sie sprechen über Europa wie über ein Land in weiter Ferne. Viele waren wohl auch nie zufrieden mit dem Maastrichter Vertrag. Der Euro wurde hier verpönt und abgewiesen.

Aber ich erinnere mich nicht an Massenproteste gegen die EU. An Demonstranten, die auf die Straße gingen, um gegen die schreckliche Unterdrückung der EU zu demonstrieren. Parteiintern gab es vor allem bei den Tories immer wieder Rangeleien bezüglich der EU und deren Mitgliedschaft. Aber wer hätte gedacht, dass das alles einmal so ausarten würde? Nun ist da die eine Seite, die auf die Elite wütend ist. Auf das Parlament hier, auf die EU in Brüssel da. Alles wird ihnen schwer gemacht, wo sie doch nur endlich da raus wollen, aus der Chose. Aus dem Geldsauger, der sich EU nennt. Der ihnen ihren Fisch wegnimmt, ihre Gesetze beeinflusst und sie so klammheimlich in die Vereinigten Staaten von Europa verwandelt, da das ja alle in Europa so wollen und auch umsetzen werden. Nicht mit ihnen! Deshalb haben sie vor über drei Jahren für den Brexit gestimmt. Die Tatsache, dass dieser noch nicht stattgefunden hat, bestätigt nur, dass die EU sie kontrolliert.

Dann die andere Seite: Sie fühlen sich als Europäer, reisen gerne in andere EU-Länder oder wollen sich dort sogar als Rentner niederlassen, oder ein Semester studieren. Sie glauben, in der heutigen Zeit ist man gemeinsam stärker als alleine, sie sehen vielleicht die EU als ein europäisches Friedensprojekt. Sie empfinden Verlust bei dem Gedanken an Brexit, sie verlieren Rechte, die ihnen wichtig sind. Sie müssen sich von einer Idee verabschieden, die nun mehr eine Ideologie gewesen zu sein scheint. Sie meinen, das Referendum wurde mit falschen Behauptungen gegen die EU von den Leavers gewonnen. Sie fühlen sich betrogen und meckern, was ihnen ihren Spitznahmen einbrachte. Je nachdem, wo sie wohnen, machen sie sich Sorgen um ihre Grenze, oder betonen, dass ihre Länder (Nordirland und Schottland) gegen Brexit gewählt haben.

Die Lösung des Dilemmas?

Aber wäre es eine Lösung, Brexit abzublasen, wie es die Lib Dems nun versprechen, falls sie die Wahl gewinnen? Würde dieser ganze Konflikt dann einfach verschwinden? Wohl kaum. Also muss ein zweites Referendum her! Oder? Befürworter sagen, die Bevölkerung wisse nun mehr als vor drei Jahren. Außerdem könnten drei konkrete Vorschläge angeboten werden:

1. Austreten ohne Abkommen
2. Austreten mit Abkommen (das von May oder das von Johnson, falls er doch noch eins hinbekommt)
3. EU-Mitglied bleiben

Vielleicht wäre dies die beste Lösung, aber die Ansichten der Leute wären wohl weiterhin gespalten, und damit auch das Land.

Am besten guckt man sich das Ganze aus der Ferne an, vielleicht mit einer großen Schüssel Popcorn in den Händen. Falls es Lösungsvorschläge gibt, schreibt mir diese auf einer Postkarte, wie es ein englisches Sprichwort sagt.

Pia Kurtsiefer

Über die Autorin
Vor 15 Jahren zog Pia Kurtsiefer aus dem Rheinland nach London, um als Lehrerin in einer Schule für autistische Kinder zu arbeiten. Heute lebt sie mit Kind und walisischem Mann in Hertfordshire. Für NORDISCH.info schreibt sie die Serie „Briefe aus England“.

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