Das Gesundheitssystem in Großbritannien
Der NHS wird 70 Jahre alt und muss in die Notaufnahme
Kurz bevor ich nach England zog, wurde meine 75-jährige Oma am Herzen operiert. Der Arzt, der sie in Deutschland operierte, hatte in seiner Vergangenheit in England praktiziert. Er teilte ihr mit, in Großbritannien würde man ihr diese Operation in dem Alter über den NHS nicht genehmigen.
Zu teuer bei ihrer nicht mehr so langen Lebenserwartung. Meine Oma lebte tatsächlich nur noch knapp fünf weitere Jahre. Wie lange sie ohne die OP gelebt hätte, werden wir nie erfahren. Aber diese Entscheidung sollte wohl nicht davon abhängen, wie alt ein Mensch ist, der dringend eine Operation benötigt.
Meine Mutter macht sich seitdem große Sorgen um mich, mit dem „schlimmen Gesundheitssystem“ in England. Ich dürfe bloß nicht krank werden, sagt sie regelmäßig. Ich sollte eine Zusatzversicherung abschließen (vielleicht eine gute Empfehlung an zukünftige Auswanderer, man kann sich aber auch in England zusätzlich privat versichern lassen), riet sie mir.
Generell scheinen in Deutschland viele den NHS als abschreckendes Beispiel für eine Bürgerversicherung zu sehen, und er wird oft als Negativbeispiel angeführt.
In England verfärbt sich dieses Bild der Wahrnehmung jedoch in ein komplett anderes. Die Briten sind sehr stolz auf ihren NHS. Im Juli wurde er 70 Jahre alt.
Auf der Webseite www.england.nhs.uk/nhs70/ ist eine Serie von Artikeln über die Ziele und Errungenschaften des NHS erschienen.
Medien berichteten über die rührende Geschichte des ersten Babys, das im NHS-System geboren wurde. Aneira Thomas kam eine Minute nach Mitternacht am 5. Juli 1948 zur Welt. Sie wurde nach dem walisischen Gesundheitsminister Aneurin Bevan (Labour) benannt, der sich aktiv für die Gründung des NHS eingesetzt hat.
Der NHS wurde basierend auf der Idee ins Leben gerufen, dass Gesundheitsversorgung für alle zugänglich sein sollte, nicht nur für Reiche.
Wie funktioniert der NHS heute?
Der NHS ist der größte Gesundheitsservice der Welt, der von Steuergeldern finanziert wird. In 36 Stunden werden rund eine Million Menschen über den NHS behandelt. Mit Ausnahme von Gebühren für Rezepte (£8.80 pro Medikament in England, in Schottland und Wales sind Rezepte weiterhin kostenlos, in Nordirland bedingt.) und Zahnarztbehandlungen (meist nicht mehr über den NHS gedeckt) können alle Menschen, die im Vereinigten Königreich wohnen, kostenlos den NHS für alle Arzt- und Krankenhausbesuche nutzen.
Doch wieviel Geld wird in den NHS investiert und wie genau sieht die Versorgung aus?
NHS-Finanzierung:
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Die Nettoausgaben des NHS haben von £78,881 Milliarden im Jahr 2006/07 auf £120,512 Milliarden im Jahr 2016/17 zugenommen. Geplante Ausgaben für 2017/18 sind £123,817 Milliarden und für 2018/19 £126,269 Milliarden.
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Die Gesundheitskosten (medizinische Leistungen, Gesundheitsforschung, zentrale und andere Gesundheitswesen) pro Kopf sind in England von £1.879 im Jahr 2011/12 auf £2.106 im Jahr 2015/16 gestiegen.
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Das Nettodefizit des NHS für das Haushaltsjahr 2015/16 betrug £1,851 Milliarden (£599 Nichtausgaben von Beauftragten und ein Defizit von £2,45 Milliarden für Trusts und Foundation Trusts). Das Anbieterdefizit für das Geschäftsjahr 2016/17 wurde mit £791 Millionen bestätigt.
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Die aktuellsten veröffentlichten Marktanalysen für psychische Gesundheit zeigen, dass die reale Reduzierung von Ausgaben des NHS für Erwachsene im erwerbsfähigen Alter 1 Prozent beträgt, 3,1 Prozent für ältere Menschen im Jahr 2011/12. Die Investition der CCG (Clinical commissioning group) in die psychische Gesundheit betrug £9,148 Milliarden im Jahr 2015/16 und £9,500 Milliarden waren für das Jahr 2016/17 geplant.
Wie sieht der Vergleich zu Deutschland aus?
2015 wurden in Deutschland 27,2 Milliarden Euro mehr für das Gesundheitssystem ausgeben als in Großbritannien.
In Deutschland kommen auf 100 Einwohner 4,6 Ärzte, in Großbritannien sind es 3,6. Aber die Arzt-pro-Einwohner-Quote allein erklärt diesen Unterschied nicht. Das ganze System ist anders aufgebaut, und das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist in Großbritannien mit 40,2 Jahren niedriger als in Deutschland mit 45,9 Jahren, wodurch für Deutschland mehr Kosten entstehen.
Jedenfalls scheint es unumstritten, dass der NHS mehr Geld benötigt. Doch woher soll dieses Geld kommen?
Das Geld, das von der Leave-Kampagne beim Brexit-Votum versprochen wurde, die so genannte Brexit-Dividende, betrug £20 Milliarden. Allerdings wurde dieses Versprechen kurz nach dem Votum zurückgenommen, dieses Geld wird wohl doch hauptsächlich in die Wirtschaft gesteckt werden.
Dieses Jahr kamen besonders viele Schreckensmeldungen bezüglich des NHS: Es gab nicht genügend Betten in Krankenhäusern, eine Frau wurde auf einem Flur im Krankenhaus gynäkologisch untersucht, da kein Zimmer frei war.
Operationen, sogar für Krebs, wurden verschoben oder gar gestrichen. Wartezeiten für Termine sind sehr lang. Notaufnahmen sind überflutet.
Die BBC bietet eine Webseite an, auf der überprüft werden kann, wie der NHS in der Region, in der man wohnt, seine Aufgabe erfüllt.
Hier sind die Resultate für meine Region, East & North Hertfordshire NHS Trust (bloß nicht meiner Mutter zeigen!):
A&E (Notaufnahme) Wartezeiten: Das gesetzte Ziel ist, dass 95% aller Patienten in vier Stunden oder weniger von einem Arzt behandelt werden. In meiner Region wurde dieses Ziel verpasst, nur 87,3% aller Patienten bekamen innerhalb von vier Stunden einen Arzt zu Gesicht, verglichen mit 88,9% in ganz England (Ziel auch verpasst).
Krebsbehandlung: Gesetztes Ziel ist es, dass 85% aller Patienten mit Krebsdiagnose innerhalb von 62 Tagen mit ihrer Krebstherapie beginnen. In meiner Region sind es 76,7%, in ganz England 79,4%.
Psychische Gesundheit: Das gesetzte Ziel sagt, dass 75% aller Patienten innerhalb von sechs Wochen nach ihrer Überweisung mit einer Therapie beginnen. In East & North Hertfordshire sind es 66%, in ganz England allerdings 89,5%. Vielleicht sollte ich innerhalb von England umziehen?
Dabei dachten wir, wir wohnen in einer medizinisch gut versorgten Region, so nah an London. In London selbst hatte ich allerdings meine bisher negativste Erfahrung mit dem NHS.
Ich habe Asthma und bin Husten gewohnt. Doch dieses Mal war es besonders schlimm. Ich konnte mich kaum zum Arzt schleppen. Dort angekommen, erklärte er mir herablassend, dass ich Asthma habe und dieses meinen Erkältungshusten verschlimmert.
Ich sagte ihm, dass es auf keinen Fall mein Asthma ist, und dass meine Lunge richtig untersucht werden müsse. Der Arzt hat mich fast ausgelacht und gesagt, dass er keine NHS-Gelder für ein Röntgenbild an mir verschwenden wird. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm daraufhin gesagt habe, aber mir ging es wirklich sehr schlecht. Er schrieb schließlich motzend eine Überweisung zum Röntgen.
Mit dem Bus quälte ich mich ins Krankenhaus, wo ich geröntgt wurde. Ich hatte eine Lungenentzündung. Die Ärzte im Krankenhaus waren nett und entsetzt von meinem Arzt und leiteten eine Beschwerde ein. Die hat den NHS wahrscheinlich noch mehr Geld gekostet. Vereinzelte schlechte Ärzte gibt es überall. Die Vorwürfe, ich würde Gelder verschwenden, war allerdings eine neue Erfahrung für mich.
Wie sieht es genau aus, wenn man in England krank ist und medizinische Versorgung benötigt?
Die Terminvergabe ist regional unterschiedlich. Oft wird von Postleitzahlenlotterie gesprochen, was auch auf die oben genannten Zahlen zutrifft. Man registriert sich bei einer Arztpraxis, wo generell mehrere Allgemeinmediziner (general practitioner, kurz GP genannt) arbeiten.
Bei der Arztpraxis, bei der meine Familie und ich registriert sind, werden in der Regel Termine für denselben Tag vergeben. Um jedoch einen Termin zu bekommen, muss man so früh wie möglich morgens anrufen. Man beschreibt der Sprechstundenhilfe kurz das Problem und wird, oft nach einigen Stunden, von einem Arzt zurückgerufen (den Arzt darf man sich nicht aussuchen, in der Regel sieht man jedes Mal einen anderen). Der Arzt beurteilt, wie dringend das Problem ist, und vergibt entweder einen Termin, oder berät telefonisch.
Fachärzte sieht man nur im Krankenhaus, und muss an sie vom Allgemeinarzt überwiesen werden.
Wenn Frauen keine Kinder gebären, oder dieses nicht im Krankenhaus tun (Hausgeburten sind hier populär, oder Geburten in Geburtshäusern) und keine gynäkologischen Probleme haben, sehen sie wahrscheinlich in ihrem Leben keinen einzigen Gynäkologen.
Der Abstrich zur Krebsvorsorge wird alle drei Jahre bei Frauen zwischen 25-49 Jahren und alle fünf Jahre bei Frauen zwischen 50-64 Jahren von einer Krankenschwester in der Arztpraxis des Allgemeinmediziners, in der die Frau registriert ist, durchgeführt. Wartezeiten auf Resultate betragen in meiner Region zwölf Wochen.
Babies werden kurz nach ihrer Geburt von einem Kinderarzt untersucht und auch bei Hausgeburten wird nach ein paar Tagen der Hörtest für Neugeborene durchgeführt. Danach sieht ein Kind einen Kinderarzt nur, wenn es in ein Krankenhaus überwiesen wird.
Es gibt so genannte Health Visitors bei denen die Kinder bis zum 2. Geburtstag in regelmäßigen Abständen Untersuchungstermine angeboten bekommen (keine Pflicht) und die man mit dem Kind bis zum 5. Geburtstag aufsuchen kann, wenn es gesundheitliche Probleme gibt, oder man sich Sorgen macht. Allerdings sind die Health Visitors nicht annähernd so gut ausgebildet wie Kinderärzte. Sie sind Krankenschwestern oder Hebammen mit einer Zusatzqualifikation.
Es gibt eine Notfallnummer, 111, die man in England, Schottland und in Teilen von Wales anrufen kann, wenn man außerhalb der Praxiszeiten plötzlich erkrankt, aber nicht krank genug ist, um zur Notaufnahme zu gehen. Man erreicht dort einen ausgebildeten Berater.
Diese Person leitet einen entweder weiter an eine Krankenschwester oder eine Ärztin, macht einen Termin im Krankenhaus oder bestellt ggf. einen Krankenwagen. Dieser Service soll Kosten reduzieren, die entstehen, wenn Menschen vorschnell zur Notaufnahme gehen. Wir haben damit bisher gute Erfahrungen gemacht und sind gut beraten worden (oft mitten in der Nacht oder am Wochenende).
Bei uns in der Stadt wurden die Geburtenstation und die Notaufnahme des Krankenhauses vor einigen Jahren geschlossen. Im Krankenhaus gibt es noch ein sogenanntes Urgent Care Unit für leichtere Verletzungen, und Fachärzte wie Hals-Nasen- und Ohrenärzte praktizieren dort, an die man vom Hausarzt überwiesen werden muss.
Doch immer weiter kommen die Schreckensmeldungen. Erst heute hieß es in den Nachrichten, wir haben zu wenige Radiologen in Großbritannien. Eine von 11 Positionen ist nicht besetzt, und Patienten müssen zu lange auf Termine warten.
Assistenzärzte haben schlechte Arbeitsverträge und verlassen Großbritannien, um anderswo bessere Bedingungen zu suchen.
Seit dem Brexit-Votum gehen die Zahlen der EU-Arbeiter zurück, und Theresa May muss genau die Gesetze ändern, die sie eingeführt hat, um die Ausländerquoten zu reduzieren. Dem NHS fehlen Ärzte, und viele können aufgrund der bestehenden Gesetze kein Visum bekommen und werden abgewiesen.
Angeblich würden Ärzte aus Indien gerne hier arbeiten. Innenminister Sajid Javid gibt ihnen Hoffnung.
Das am 29.10.2018 von Philip Hammond vorgestellte neue Haushaltsbudget verspricht einen Zuschuss an den NHS in Höhe von £20,5 Milliarden bis zum Jahr 2023.
Wo dieses Geld herkommen soll, wird sich zeigen. Die Tories behaupten, auch bei einem schlechten Brexit-Deal sei dieses Geld gesichert. Allerdings schließen diese bisher auch nicht ausdrücklich aus, dass der NHS als Teil eines Handelsvertrags mit den USA an amerikanische Unternehmen verkauft wird. Das ist vielleicht die größte Schreckensmeldung überhaupt, falls es denn je so kommen sollte.
Was halte ich nun nach über 14 Jahren vom NHS? Eine klare Meinung habe ich nicht. Theoretisch kann eine Bürgerversicherung wohl gut funktionieren, wenn sie durchdacht finanziert und verwaltet wird. Die Regierung sollte Steuergelder für eine Bürgerversicherung priorisieren, Ärzte und Krankenschwestern müssen gut bezahlt werden. Momentan sieht es damit im Vereinigten Königreich nicht gut aus.
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Text und Fotos von Pia Kurtsiefer
Über die Autorin Vor 14 Jahren zog Pia Kurtsiefer aus dem Rheinland nach London, um als Lehrerin in einer Schule für autistische Kinder zu arbeiten. Heute lebt sie mit Kind und walisischem Mann in Hertfordshire. Für NORDISCH.info schreibt sie die Serie „Briefe aus England“. |