Mitreißende Untersuchung der Uni Quebec
England: Stammt die Flaschenpost der kleinen Mathilde tatsächlich von der Titanic?
Wenn die Geschichte stimmt, dann ist sie alles auf einmal: sensationell, traurig, schön, beklemmend, hoffnungsfroh – einfach alles. Forscher der Université du Québec à Rimouski (UQAR) untersuchen gerade die Authentizität einer an der Küste von New Brunswick in Kanada gefundenen Flaschenpost, die das Potenzial hat, in die Geschichtsbücher einzugehen.
Denn die Flaschenpost, um die es geht, könnte im April 1912 von der 12-jährigen Mathilde Lefebvre aus Frankreich an Bord der Titanic verfasst und von ihr in den Atlantik geworfen worden sein. Und zwar nur Stunden vor einer der größten zivilen Tragödien aller Zeiten, dem Untergang eben jener Titanic.
„Ich werfe diese Flasche ins Meer, mitten im Atlantik“, schreibt die kleine Mathilde in dem Brief. „Wir werden in ein paar Tagen in New York ankommen. Wenn jemand diese Nachricht findet, kontaktieren Sie die Familie Lefebvre in Liévin.“
Fest steht, dass Mathilde Lefebvre im April 1912 tatsächlich an Bord der Titanic gegangen ist, um zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern die lange Überfahrt nach Nordamerika anzutreten.
Zusammen mit fast 1.500 Mitreisenden sollten sie das Ziel jedoch nie erreichen. Denn in der Nacht vom 14. auf den 15. April sank die Titanic nach der Kollision mit einem Eisberg südöstlich von Neufundland auf den Grund des atlantischen Ozeans. Der im Vorfeld als unsinkbar eingestufte Ozeanriese der britischen Reederei White Star Line mit Heimathafen Liverpool hatte noch nicht einmal seine Jungfernfahrt überstanden.
Mit langer Zeitverzögerung machen sich nun also die Forscher in Quebec daran, den Wahrheitsgehalt der Flaschenpost zu analysieren. Und damit eines der letzten großen Geheimnisse der Katastrophe. An Land gespült wurde das Schreiben bereits 2017 in New Brunswick, einer Provinz im Osten Kanadas. Zufällig gefunden hatte es eine Familie am Strand – nahe der Bay of Fundy.
„Bisher sieht die Post nicht nach einer Fälschung aus“, sagt Nicolas Beaudry, Professor für Archäologie an der Université du Québec à Rimouski. Zudem sei bekannt, dass es auf der Titanic tatsächlich einen weiblichen Passagier namens Mathilde Lefebvre gegeben hatte.
„Sie war die Tochter von Franck Lefebvre, einem Bergarbeiter aus Nordfrankreich, der sein Glück in Amerika suchte“, so Beaudry. Franck Lefebvre, auch das ist überliefert, hatte nach seiner Ankunft in Nordamerika Arbeit in einer Mine in Iowa gefunden.
Zusammen mit seinen vier ältesten Kindern war er vorgefahren in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, um den Rest der Familie – darunter Mathilde – schnellstmöglich nachzuholen. Dafür brauchte es Geld, für das Franck Lefebvre in der Mine schuftete.
Gut ein Jahr nach der Trennung hatte er dann endlich genug für die Wiedervereinigung der Familie angespart – für Tickets auf der Titanic. „Sie alle hat das Schicksal ereilt“, sagt Beaudry, dessen Team gerade damit beschäftigt ist, die Materialien des Briefes zu überprüfen. Da wäre zunächst das Dokument selbst sowie die Flasche und der Korken, der das Schreiben über 100 Jahre versiegelt haben müsste.
„Bis jetzt scheinen die Materialien mit dem Datum übereinzustimmen“, teilte Beaudry nun Medien gegenüber mit. „Das schließt jedoch einen Schwindel nicht aus“, so der Fachmann.
So sei denkbar, dass jemand die alten Materialien benutzt haben könnte, um den Brief zu fälschen. Möglicherweise Jahre nach dem Untergang der Titanic oder gleich danach. Wobei der Brief natürlich auch dann ein bemerkenswertes Zeitzeugnis wäre.
Falschmeldungen per Flaschenpost seien zu der damaligen Zeit jedenfalls nicht unüblich gewesen, sagt Beaudry, da die Presse mit Sicherheit darauf eingegangen wäre. „Dem anonymen Verfasser wäre so garantiert viel Aufmerksamkeit zuteilgeworden.“
Daher sei es für ihn und sein Team vorrangig, die Handschrift des Briefes und die verwendete Sprache zu analysieren. „Auf den ersten Blick mag es wie eine kursive Handschrift aus dem frühen 20. Jahrhundert aussehen, aber es gibt auch Ungereimtheiten mit dem, was Kinder damals in der Schule in Frankreich gelernt haben“, teilte Beaudry mit.
Und der Fundort in New Brunswick? Könnte sich eine von der Titanic ins offene Meer geworfene Flaschenpost im Laufe der Jahrzehnte wirklich hierher verirrt haben? Gegen den Golfstrom also, der die Flaschenpost ja eigentlich in Richtung Europa hätte treiben lassen müssen?
„Das ist unwahrscheinlich“, sagte einem CBC-Bericht zufolge Daniel Bourgault, Professor für physikalische Ozeanographie an der Université du Québec à Rimouski. „Es ist sogar ziemlich unwahrscheinlich – aber es ist eben auch nicht unmöglich.“ Die Chancen lägen irgendwo im Prozentbereich, heißt es in dem Bericht.
Wann die Echtheit des Schreibens überprüft sein wird, ist derzeit offen, sagen die Forscher. Es sei auch möglich, dass es niemals gelingen werde, den Sachverhalt zu 100 Prozent zu klären. Umso wichtiger ist aber der Versuch, es zu tun. Denn es gibt noch Nachfahren der Lefebvres, die heute in Südfrankreich leben und sehnsüchtig auf das Ergebnis warten.
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