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Gemeinschaft ist wichtiger denn je

Das Leben in Großbritannien in Zeiten des Coronavirus

Meine Nachbarin stellte die Tage folgende Aussage in ihr Facebook-Profil: „Ich vermisse den Brexit!“

England Coronavirus
London im headlock … Verzeihung … im lockdown des Coronavirus. (Foto: butti_s)
In einem früheren Artikel scherzte ich noch darüber, dass das neue Coronavirus offiziell die Insel ausgerechnet am 31. Januar erreicht hat, am Brexit-Tag. Niemals hätte ich mir damals ausmalen können, wie es nun, genau zwei Monate später, mit der Welt aussähe. Dass ich in einem lockdown leben würde, immerhin zusammen mit meiner Familie.

Die britische Regierung nimmt die Bedrohung durch das Coronavirus seit ein paar Wochen nun endlich auch ernst. Zuerst sah es so aus, als ob Boris Johnson das Virus durch die Bevölkerung rasen lassen möchte, um Herdenimmunität zu erreichen. Die Wirtschaft wurde geschützt, bis es keine Alternative mehr gab.

Dank einer veröffentlichten Studie des Imperial Colleges in London hat sich diese Haltung massiv geändert. Seither bekommen wir jeden Tag um 17 Uhr ein Pressebriefing von der Regierung zur aktuellen Lage der Nation. Ursprünglich von Boris Johnson persönlich, bis dieser selbst am Coronavirus erkrankte, ebenso wie unser Gesundheitsminister, Matt Hancock.

Der Kanzler, Rishi Sunak, noch ganz neu auf seinem Posten, hat in einem solchen Briefing den Unternehmen £3,3 Mrd. Schadensausgleich versprochen, und dann, ein paar Tage später, den Erwerbstätigen, dass die Regierung für mindestens die nächsten drei Monate 80% ihrer Gehälter bezahlt. Selbständige erhalten im jüngsten Rettungspaket auch finanzielle Unterstützung, wobei sie noch ein paar Monate warten müssen und erst einmal ihren Steuerausgleich vorlegen müssen, für den die Abgabefrist verlängert wurde.

Sie können bis dahin einen Lohn bei Universal Credit beantragen, dem viel kritisierten System der Tories, bei dem Arbeitslose mindestens fünf Wochen auf ihre erste Auszahlung warten müssen. Aber immerhin, so sozial wie im Moment haben wir die Tories noch nie erlebt.

Wie kommt der NHS mit Covid-19 zurecht? Das Gesundheitssystem, von den Briten geliebt, durch Steuergelder finanziert und von der Großzügigkeit der jeweiligen Regierung abhängig, wurde nun schon seit einem Jahrzehnt von den Tories finanziell vernachlässigt. Jede Grippewelle löste in den vergangenen Jahren eine Krise aus, mit Patienten in Betten auf Fluren, Wartezeiten in der Notaufnahme von oft über vier Stunden, und Terminen für z.B. Krebspatienten um eine vielfache Wartezeit länger als in Deutschland.

Rishi Sunak hat nun dem NHS versprochen, er bekomme alles Geld, was er verlange. Das ist wunderbar, aber auch zwingend nötig, und leider sehr reaktiv.

Außerdem hat Großbritannien wohl verpasst, sich frühzeitig auf die Covid-19-Krise bezüglich der Tests vorzubereiten. Es gibt nicht genügend davon.

Bis Mitte April soll die Anzahl auf 25.000 pro Tag erhöht werden. Im Moment werden nur Patienten getestet, die im Krankenhaus mit einer Lungenerkrankung eingeliefert wurden. Die Dunkelziffer der tatsächlichen Fälle ist also sehr hoch.

Wie sieht das Leben in Zeiten des Coronavirus aus?

Wie sieht das Leben nun konkret hier aus? Vor zwei Wochen machte die Regierung ihre erste ernste Ansprache an das Volk. Die Bevölkerung wurde gebeten, möglichst von zu Hause aus zu arbeiten und die Maßnahmen des social distancing einzuhalten. Pubs und Geschäfte blieben zunächst auf, sollten aber wenn möglich gemieden werden. Auch alle Schulen blieben zuerst geöffnet.

Anhand der neuen Zahlen der Covid-Fälle wurden diese Maßnahmen jedoch schnell verschärft. Schulen sind nun die zweite Woche geschlossen, außer für Kinder, deren Eltern unbedingt außerhalb des Hauses arbeiten müssen, und für Kinder, die ein Recht auf Betreuung haben.

Pubs mussten schließen, nachdem klar wurde, dass anfangs viele Leute die neuen Regeln missachteten. Parks waren überflutet mit Menschenmengen, die U-Bahn in London platzte weiterhin aus allen Nähten. Aber nun ist alles ruhiger, nun wird die Lage ernst genommen. Ob diese Einsicht zu spät kam, wird sich herausstellen.

Wir haben unseren Sohn bereits vor drei Wochen aus der Schule genommen. Eine weitere Nachbarin von uns ist Chinesin, und sie hat mich schon vor Wochen vorgewarnt und war entsetzt, dass die britische Regierung nichts unternahm.

Zuerst hat sie sich über die chinesische Regierung aufgeregt, dann aber mehr über die hiesige. Unser Sohn ist außerdem auf einer Schule, wo über den half-term break im Februar etliche Schüler im Skiurlaub in Norditalien waren.

Viele kamen krank zurück, und damals wurden sogar einige auf Covid-19 getestet. Diejenigen hatten negative Tests, aber am Ende der Woche hatte unser Sohn hohes Fieber und Halsschmerzen. Am nächsten Tag ging es ihm wieder gut. Er hatte noch ein paar Tage lang leichten Husten. Dann wurde ich krank, kurz danach mein Partner.

Ich hatte Fieber, Husten und meine Lungen fühlten sich sofort sehr merkwürdig an, und mein Asthma wurde schlimmer. Mein Partner hatte kein Fieber und kaum Husten, konnte aber nicht richtig durchatmen und hatte Schmerzen im Brustkorb. Wir riefen bei der Nummer des NHS an, die man anrufen soll, wenn es kein Notfall ist, aber ärztlicher Rat ersucht wird.

Mittlerweile soll diese Nummer nur noch in Notfällen angerufen werden, und sich stattdessen im Internet beim NHS Rat gesucht werden. Jedenfalls wurde uns gesagt, dass wir keinen Test bekommen, weil wir in keinem der Risikogebiete waren und mit niemandem Kontakt hatten, der offiziell eine Diagnose hat. Falls wir nicht mehr atmen können, sollen wir aber bitte nochmal anrufen. Das war ein netter Witz.

Es geht uns nun zum Glück wieder besser, aber wir wissen nicht, ob wir das Virus bereits hatten oder nicht. Ob wir je einen Antikörper-Test bekommen, werden wir abwarten müssen. Ich würde gerne anderen helfen, mit Einkäufen usw., falls ich Antikörper habe. Falls nicht, muss ich besonders aufpassen, da ich Asthma habe und mehrfach Lungenentzündung hatte.

Der NHS völlig überfordert

Letzte Woche hatte ein Schüler der Schule meines Sohnes hohes Fieber, trockenen Husten, und konnte nicht gut atmen. Seine Mutter rief die besagte Nummer des NHS an. Zwei Stunden konnte sie dort niemanden erreichen, und als sie schließlich einer Person am anderen Ende der Leitung ihre Situation erklären konnte, dauerte es weitere fünf Stunden, bis sie von einem Arzt zurückgerufen wurde.

Dieser sagte ihr, sie möge ihren Sohn sofort ins Krankenhaus bringen. Dieser Sohn hat außerdem eine Vorgeschichte von Luftröhrenkrebs, gilt also als potentieller Risikopatient.

Im Krankenhaus wurde ihm Blut entnommen und bestätigt, dass er eine Virusinfektion hat. Außerdem wurde seine Lunge geröntgt. Da stellte sich zum Glück heraus, dass seine Lungen noch gut aussehen. Also wurde er nach Hause geschickt, ohne Covid-Test!

Er erholt sich nun langsam zu Hause, aber seine Mutter hat nun Fieber und Husten. Zwei weitere Eltern aus der Klasse meines Sohnes husten und fiebern auch seit dieser Woche, aber solange sie nicht ersticken, werden sie nicht ins Krankenhaus eingeliefert und bekommen daher keinen Test. Diese Situation soll sich bald ändern, aber dies ist die momentane Lage.

Respekt für die NHS-Mitarbeiter

Zum Abschluss möchte ich allerdings noch erwähnen, welche positiven Erfahrungen ich in den letzten Wochen gemacht habe: Die Mitarbeiter des NHS, ob Ärzte, Ärztinnen, Krankenschwestern, Pfleger oder Verwaltungsangestellte, werden alle sehr geschätzt und gelobt.

Viele Supermärkte und Online-Läden bieten NHS-Mitarbeitern Rabatte an. Das Wembley Stadion und der Angel of the North erstrahlen in Blau, den Farben des NHS. Auch andere Berufsgruppen, von der Müllabfuhr über Mitarbeiter in Lebensmittelgeschäften zu Putzkräften, werden alle endlich so wertgeschätzt, wie sie es verdient haben.

Über 700.000 Menschen haben sich nach einem Aufruf der Regierung gemeldet, als Helfer für besonders durch Covid gefährdete Personen einzuspringen. Sie kaufen für sie ein, holen Medikamente ab usw.

In meiner Nachbarschaft helfen sich alle aus – geht jemand einkaufen oder bekommt online Ware geliefert, wird allen Bescheid gegeben, damit wir versorgt sind. Unsere oben erwähnte chinesische Nachbarin hat uns letzte Woche einfach Klopapier vor die Haustür gestellt. Die Gemeinschaft ist wichtiger denn je, und wir besinnen uns darauf, was im Leben wesentlich ist.

Außerdem redet niemand mehr über den Brexit. Vielleicht wird das problematisch zum Jahresende, aber im Moment ist das Brexit-Thema vom Tisch. Es kümmert niemanden mehr, ob man Leaver oder Remainer war. Nun müssen wir alle zusammen durch diese viel größere Krise. In Zusammenarbeit mit der EU, und anderen Ländern. Das Brexit-Drama war eine ruhige Zeit, die nun fast nostalgisch vermisst wird.

Pia Kurtsiefer

Über die Autorin
Vor über 14 Jahren zog Pia Kurtsiefer aus dem Rheinland nach London, um als Lehrerin in einer Schule für autistische Kinder zu arbeiten. Heute lebt sie mit Kind und walisischem Mann in Hertfordshire. Für NORDISCH.info schreibt sie die Serie „Briefe aus England„.

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