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Eine alte Hansestadt: Viljandi macht Musik – Teil 5 der Radreise

Mit Wasser und Wifi – durch die Sümpfe von Soomaa

Der fünfte Teil der Serie, in der unser Autor, Jens Bemme, die Strecke des Radtourenbuches von Estland aus dem Jahre 1897 ausprobiert. Heute geht es mit dem Fahrrad nach Viljandi, Tõrva und Valga.

Sommaa Sumpf
Erfrischendes Schwimmen im Sumpf. (Foto Nordisch.info)

Außer WiFi auf öffentlichen Plätzen, an Imbissbuden und an roten Ferienhütten im Wald funktioniert in Estland auch das cross-regionale Tourismusmarketing. Auf die Sümpfe von Soomaa, zwischen Pärnu und Viljandi gelegen, stoße ich erstmals in Haapsalu. Nicht ganz zufällig. Denn in Tourismusbüros gibt es freies WiFi selbstverständlich auch – neben den Broschüren benachbarter Reiseziele und -regionen, die alle auf Radfahrerinnen hoffen.

Die Gegend des Nationalparks Soomaa, so steht es in einem dieser Hefte, eigne sich zum Wandern und zum Paddeln – in den Zeiten der regelmäßigen Überflutungen sowieso. Von fünf Jahreszeiten in Soomaa ist die Rede. Die teils unberührten Sümpfe sind durch hölzerne Rundwege, Lehrpfade, Aussichtstürme und Hängebrücken erschlossen.

In der Hitze des 2018er Sommers bietet das Team im Naturzentrum von Soomaa nicht nur Postkarten an. Der Wasserspender im Foyer selbst hat kein WLAN, darf aber mitbenutzt werden. In den Tagungsräumen des Zentrums könnten wir den in Radfahrergedanken längst skizzierten internationalen Workshop über „Dorfkrüge und Bierbuden in der estnischen Radfahrgeschichte“ veranstalten – nach dieser kleinen Rundfahrt: Man muss sich ja neue Ziele setzen!

Eine alte Hansestadt: Fellin macht Musik

Fahrradverein Viljandi
Viljandi Rattaklubi – Der Fahrradverein von Viljandi macht sich zum Ausflug bereit. (Foto Nordisch.info)

Viljandi liegt an einem See, zwischen Feldern und Wäldern. Raus aus den Sümpfen ist es hier hügeliger als an der Küste und auf den Inseln. Die Landschaft ist von Landwirtschaft geprägt. In Folie gerollte Heuballen lagern gestapelt neben den Scheunen. Weiße und grüne kenne ich von zu Hause. Zuweilen leuchten sie hier dreifach aufeinander gestapelt in den estnischen Nationalfarben – blau-schwarz-weiß – zwei Kilometer über das Feld, “gegen den Wind!”. So viel Nationalstolz muss sein.

Sportlich geht es in Viljandi zu. Die weitläufige Festung und das benachbarte Stadtzentrum liegen oberhalb des Viljandi-Sees. Höhenmeter kommen hier schnell zusammen. Die Sportanlagen am See sind belebt und sehr modern.

Aktivitäten am Viljandi-See

Beachvolleyball am Viljandi See Turmspringen am See Baden am Viljandi-See
Wasserski Viljandi Tennis spielen am Viljandi-See Entspannung am See

Kompakt erzählt das Tourenbuch ab Seite 159 die wechselhafte Geschichte Viljandis vor 1897:

Fellin. Kreisstadt im Gov. Livland, einer fruchtbaren Niederung am Fellinschen See, ca. 5400 Ew., hat eine griech.-orth. und u. A. eine 1219 erbaute luth. Kirche und enge, zum Teil bergige Strassen. Fellin war eine Estenburg (in der Provinz Sakkala) bis 1211 im Besitze der deutschen Schwertritter bis 1212, darauf in d. Händen der Sakkalaner bis 1227, welche dann abermals den deutschen Schwertrittern unterlagen und das Christentum annahmen. (…) Die Stadt schloss sich 1280 dem Hansabunde an, wurde 1481 von einem russischen Heere zerstört und im nämlichen Jahre wieder aufgebaut; 1502 abermals verwüstet und erst nach 8 Jahren wieder aufgebaut. F. war danach wiederholt im russischen, schwedischen und polnischen Besitze und gehört seit 1710 zu Estland.

Gut besuchte Burgruine

Burg Viljandi gut besucht Burgruine Viljandi Touristen in der Burg

Die Suche nach einem Zimmer führt erst tief hinab an die Sportplätze und an den See, und dann doch wieder hinauf ins Zentrum. Schließlich am Stadtpark vorbei in ein Viertel am Stadtrand in ein Zimmer samt Sauna neben dem Bett. Bekannt ist Viljandi für das alljährliche Folkfestival, das ich um eine Woche verpasse. In diesem Fall durchaus glücklich, denn spontane Zimmer sind hier dann nicht zu finden!

Rathaus Viljandi
Rathaus von Viljandi, eines der ältesten Steingebäude der Stadt, Fertigstellung 1774. Turmuhr 1931 hinzugefügt. (Foto Nordisch.info)

Das Festival ist ein Magnet, weltweit. Ein befreundeter Musikwissenschaftler macht mich per SMS darauf aufmerksam. Mariann in Tallinn hatte das Festival und die begrenzte Zimmerzahl Viljandis erwähnt, als wir über den Krug “bad rabbit” im Tourenbuch (Seite 91: „Pahhajänes“) sprachen, erinnere ich mich nun. Viljandi gilt zudem als Hauptstadt der Volksmusik. In Pärnu berichtete eine Münchnerin von der großen Musiksammlung in Viljandi. Man könne im dortigen Museum estnische Volkslieder probieren: spontan reinhören und testen. Jetzt, im Rückblick, beim Texten am Schreibtisch – ohne Estnischkenntnisse – finde ich keinen Link zu dieser Sammlung, bilde mir aber ein, dass mich die morgendliche Fahrt durch Viljandi an ihr vorbei führte – auch sie war noch geschlossen.

Auf nach Tõrva und Valga

Weiter geht’s: Tõrva liegt an der Straße nach Lettland. Der zentrale Platz des Ortes ist zugleich ein moderner Busbahnhof umgeben von Tourismusinformation, Imbiss, Supermarkt und der „Botschaft von Lettland“, das Restaurant und Café am Platz. Ein Coffee-Table-Book mit alten Ansichten Tõrvas weckt meine Neugier: Wer weiß, ob darin nicht auch altes Radfahrerwissen steckt. Beim schnellen Blättern im Museum von Lihula hat das schon geklappt. Der Fund im Café: August Bernhardt und Enn Saare, zwei Jungen aus Tõrva, fuhren 3000 Kilometer nach Berlin und zurück, um 1936 die Olympischen Spiele mit eigenen Augen zu sehen. Die abgebildete Ansichtskarte und ihr Dank galten den Unterstützern dieser Tour.

August Bernhardt und Enn Saare
August Bernhardt und Enn Saare, zwei Jungen aus Tõrva, fuhren 3.000 Kilometer nach Berlin und zurück, um 1936 die Olympischen Spiele zu sehen. (Foto Jens Bemme)

1.296 Kilometer lang wäre die “Tour de LatEst”, so titelt eine gefaltete Landkarte aus dem Bahnhof von Valga. Cleveres Marketing, denn die Beschreibung dieser Rundfahrt durch den Norden Lettlands und Süden Estlands bringt die Straßenverhältnisse beider Länder gut auf den Punkt:

“It must be taken into account that the quality of gravel roads changes depending on the weather conditions and road maintenance intensity.”

“One Town, two Countries” steht am großen Bahnhofsgebäude von Walk, heute Valga.

Das estnische Zentrum der geteilten Stadt wirkt etwas morbider als die lettische Seite, durch die ich erst am nächsten Morgen südwärts fahre. Die Nacht verbringe ich noch einmal in Estland. Die Tochter der Vermieterin feiert am Abend ein Fest; aber keinen Geburtstag! Sie arbeite in Finnland und sei gerade auf Besuch zu Hause in Valga.

Beim Einkauf um die Ecke wird auch Russisch gesprochen. Cпасибо! Danach bleibt noch Zeit für fünf Postkarten aus Soomaa. Die Party ist vorbei als morgens in der geräumigen Garage ein deftiges Frühstück serviert wird. Im estnischen Frühstücksfernsehen erklärt ein Forscher der Universität Tartu im leuchtend grünen T-Shirt mit dem Logo der Uni zehn Minuten lang alles mögliche über Wespen: Biologie, vermeintliche Fallen und vermutlich auch die Frage, ob Estland in diesem Sommer eine Wespenplage erlebt. Ich verstehe nichts im Detail. Aber die Wissenschaftskommunikation funktioniert hier, bzw. in Tartu, offenbar gut.

„Genau so!“, denke ich bei mir. Am Weg zum lettischen Teil der Stadt steht das Gymnasium von Valga. Gerade werden die Außenanlagen fertiggestellt. Das neue Schuljahr in Estland kann also kommen! Der Rest dieser Schule wirkt sehr modern. Vor der Schule die Statue zeigt sich zielstrebig.

Bis hier: Herzlichen Dank, Estland! … Willkommen in Lettland.

Der sechste Teil der Radtour durch Estland und Lettland erscheint nächste Woche.

Siehe auch:

Jens Bemme

Über den Autor
Jens Bemme aus Dresden forscht und twittert zu historischem Radfahrerwissen um 1900. Er studierte Verkehrswirtschaft und arbeitet im Bereich Landeskunde und Citizen Science der SLUB Dresden. Das Tourenbuch von Estland führte ihn im Sommer 2018 mit Umwegen von Tallinn nach Riga. // twitter.com/jeb_140 // jensbemme.de

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