Windenergie sei „nicht zukunftsfähig“
Update: Vom Wald in den Heizkessel – Estlands Verständnis erneuerbarer Energien wirft Fragen auf
Seit vielen Jahren versucht Estland, sich ein Image als grüne Oase zu erarbeiten. Auf fast jeder seiner Tourismusbroschüren finden sich saftige nordische Wälder, die etwa die Hälfte des Staates bedecken. Seit einigen Jahren bekommt die Geschichte vom Naturidyll jedoch Kratzer: Immer mehr Wälder landen nicht auf den Titelseiten von Reiseführern, sondern im Heizkessel – und das im Namen des Umweltschutzes. Wie ist das möglich?
Der Anteil erneuerbarer Energiequellen muss sich in den nächsten Jahren drastisch erhöhen, um dem Klimawandel entgegenzuwirken. Daher subventioniert die Europäische Union die regenerative Energiegewinnung. Paradoxerweise beschleunigen diese Subventionen jedoch den Abbau von Wäldern: In Estland verschwindet immer mehr Forst im Namen des „grünen“ Stroms.
Bei der sogenannten Biomasseverbrennung werden organische Materialien, zum Beispiel Landwirtschaftsabfälle, Dung oder Holzreste in Kraftwerken verbrannt. Da die pflanzlichen oder tierischen Produkte nachwachsen, gilt der aus der Biomasseverbrennung entstehende Strom laut EU-Definition als erneuerbare Energiequelle – genauso wie Sonnen-, Wind- und Wasserkraft.
Abholzung für erneuerbare Energien
Seit Jahren wird der Anteil an Wäldern in Skandinavien und den baltischen Staaten geringer. Das fand ein EU-Forschungsprojekt mit Satellitenauswertungen heraus. Seit 2015 hat die Abholzung in diesen Gebieten um mehr als 50 Prozent zugenommen.
In Estland vermuten mehrere Umweltorganisationen einen Zusammenhang zwischen den Rodungen und der Zunahme der Biomasseverbrennung. Der Estnische Umweltfonds (ELF) ist die größte unabhängige Naturschutzorganisation des Landes. In seinen Analysen zur Abholzung beruft er sich unter anderem auf die Aussagen von Beamten und Forstbesitzern.
Ursprünglich war die Biomasseverbrennung in erster Linie für die Verwertung von Abfällen der Land- und Holzwirtschaft gedacht. Mittlerweile landen von jährlich gewonnenen 10-12 Millionen Kubikmeter Holz mehr als die Hälfte in Heizöfen. Heimische Kamine und Heizanlagen bilden dabei nur einen Bruchteil. Etwa vierzig Prozent des Holzvolumens wird ins Ausland geliefert – in Form von Holzscheiten oder Pellets, also Pressgranulat zur Verbrennung.
Verbrennung für mehr Energiesicherheit?
Energiepolitik ist in Estland seit der Unabhängigkeit 1991 ein wichtiges und emotionales Thema. Grund dafür ist die angestrebte energetische Unabhängigkeit von Russland. Damit ist Energiepolitik für Estland immer auch eine Frage der nationalen Sicherheit. Um eventuelle Ausfälle zu kompensieren kommt es neben der Eigenständigkeit der Energieproduktion auch auf eine Mischung verschiedener Gewinnungsmethoden an. Nur ein vielseitiges Energieportfolio gilt als sicher.
Wie die estnische Wirtschaftszeitung Ärileht schreibt, wird der Großteil des Energieverbrauchs von Kraftwerken mit dem heimischen Ölschiefer abgedeckt. Erneuerbare Energien bilden momentan nur etwa 16 Prozent der estnischen Energie ab – Tendenz steigend. Innerhalb des nachwachsenden Sektors spielen Wasser- und Windkraft jedoch nur eine untergeordnete Rolle: 94 Prozent macht die Verbrennung von Biomasse aus.
Biomasseverbrennung hat im Vergleich zu anderen erneuerbaren Quellen gravierende Nachteile: Zum einen wird bei der Holzverbrennung ebenso wie bei fossilen Brennstoffen Kohlenstoffdioxid freigesetzt. Um diesen Faktor zu minimieren dürften laut Einschätzung des ELF lediglich Abfälle der Holzindustrie verbrannt werden. Zum anderen droht durch die nötige Abholzung großer Waldflächen eine nachhaltige Veränderung der lokalen Ökosysteme. Das beeinträchtigt nicht nur die natürliche Entwicklung der Landschaft, sondern auch die Tier- und Pflanzenwelt.
Profit vs. Waldschutz
Das Umweltministerium in Tallinn scheint im Anstieg der Holzverbrennung kein Problem zu sehen: „Wir haben nicht viele Alternativen. Biomasse ist ein regenerativer Energieträger“, erklärt Marku Lamp auf Anfrage des ARD-Europamagazins. Lamp ist der stellvertretende Generalsekretär des Ministeriums. „Wenn wir das Holz so aus dem Wald entnehmen können, dass wir das Ökosystem nicht schädigen“, fügt er an, „dann ist es auf jeden Fall ein erneuerbares Material.“
Den Umweltfonds stellen diese Aussagen nicht zufrieden. Für eine klimaneutrale Entnahme, so der Verband, müsse der Wald erstmal auf den vorherigen Stand nachwachsen. Das könne bis zu 50 Jahren dauern. Zudem würden hauptsächlich Fichten nachgepflanzt, die zwar schneller wachsen, aber nicht zur Vielfalt des Waldes beitragen. Für ein nachhaltiges Modell müsse die gesamte Abholzung unter 8 Millionen Kubikmeter Holz pro Jahr liegen – also ein Drittel weniger als 2018.
Die Argumente für den Erhalt des estnischen Waldes müssen in der Realität gegen seinen wirtschaftlichen Wert ankämpfen: Estland ist nach Lettland der größte Brennpellet-Exporteur Europas. Das Land beliefert vor allem die Absatzmärkte im Vereinigten Königreich, den Niederlanden, Italien und Dänemark. Mehr als 30.000 Arbeitsplätze stecken im holzverarbeitenden Gewerbe.
Allein Graanul Invest, der größte estnische Pellets-Produzent, stellte im letzten Jahr mehr als 2,49 Millionen Tonnen Pellets her. Dem Konzern gehören über 53.600 Hektar Waldflächen in Estland und 1.200 Hektar in Lettland. Laut firmeneigenem Nachhaltigkeitsbericht befinden sich circa 11 Prozent dieser Wälder in geschützten Gebieten, die mit „besonderer Pflege“ behandelt würden.
Was besondere Pflege bedeutet, machte die estnische Regierung deutlich: sie genehmigte die Abholzung von ca. 82.000 Hektar geschützten Waldflächen. Diese Flächen sind Teil des Natura-Verbundes, eines EU-weiten Netzes von Naturschutzgebieten. Da auch während der Brutzeit von Vögeln Genehmigungen erteilt wurden, waren viele Umweltaktivisten schockiert. Das Ministerium winkt jegliche Bedenken ab: Nur ein gepflegter Wald sei ein guter Wald.
Windenergie sei „nicht zukunftsfähig“
Die Wurzeln der jetzigen Lage reichen zwar einige Jahre zurück. Doch auch die aktuelle Regierungskoalition aus Mitte und Ultrarechten setzt auf die Rodungen. Umweltminister Rene Kokk kündigte zunächst einen Entwicklungsplan für die Forstwirtschaft an. Seine Partei, die rechtsextreme EKRE, lehnt andere regenerative Energieformen als „nicht zukunftsfähig“ ab. Eine fertige Version des Waldentwicklungsplans wies der Umweltminister schließlich zurück.
Ein Verbund aus neun estnischen Umweltverbänden beschuldigt Kokk, den „Waldkrieg“ ausgerufen zu haben. In einem öffentlichen Brief klagen sie den Minister an: „Die Rückweisung des neuen Forstentwicklungsplans durch den Minister zeigt, dass das Umweltministerium weiterhin nur die intensive Forstwirtschaft unterstützt. Der angekündigte Strategieplan war eine Farce, mit der man die Öffentlichkeit und die Umweltschutzorganisationen für dumm verkaufen wollte.“
Im Mai 2020 wurden Pläne öffentlich, nach denen der staatliche Energiekonzern Eesti Energia künftig ebenfalls Subventionen auf Biomasseverbrennung zahlen solle. Der Verbund estnischer Umweltorganisationen kritisiert dieses Vorgehen. Ihrer Meinung nach werde es zu einer weiteren Nachfragesteigerung auf dem Holzmarkt führen. Auch künftig dürfte also der Anteil der Rodungen zunehmen. Stoppen könnte dies wohl nur ein Signal aus Brüssel.
Aktualisierung, 18.12.2020: Wie der estnische Rundfunk ERR am 18.12.2020 meldete, bestätigte die Europäische Kommission am Mittwoch (17.12.2020) den Subventionsplan für regenerative Energieträger. Auch in den nächsten zehn Jahren wird Biomasseverbrennung daher zu einhundert Prozent als erneuerbare Energiequelle gelten. Estland wird über diesen Zeitraum Subventionen im Rahmen von 450 Millionen Euro erhalten.
Marcel Knorn