Plus von 40 % gegenüber 2021
Estnischer EU-Kommissar klagt: „Europas LNG-Importe aus Russland seit Kriegsbeginn stark gestiegen“
Da klemmt was in der Logik: Während die Europäische Union (EU) ihre Abhängigkeit von russischem Erdgas seit Beginn der Invasion in der Ukraine drastisch reduziert hat, ist der Verbrauch von Flüssiggas (LNG) stark gestiegen. Also von russischem LNG, um das klar zu sagen.
Der estnische EU-Kommissar Kadri Simson, zuständig für Energiefragen, dazu: „Es ist eine Tatsache, dass Russland, nachdem es fast 100 Milliarden Kubikmeter Pipeline-Gas gekappt hat, einen Teil davon durch eine größere LNG-Kapazität ersetzt.“
Das Flüssiggas werde zwar nicht in die „historischen Märkte in Mittel- und Osteuropa“ exportiert, dafür aber in diverse Terminals „an der Westküste Europas“. Simsons Ausführung als politische Merkwürdigkeit zu beschreiben, wäre die wohlwollende Variante. Er selbst bezeichnet es als Absurdität.
Dazu zwei Zahlen: Im Jahr 2021, vor der vollumfänglichen Invasion in der Ukraine, importierten die EU-Mitgliedstaaten laut Global Witness 15 Millionen Kubikmeter LNG aus Russland. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum waren es 2023 satte 22 Millionen Kubikmeter – ein Plus von rund 40 Prozent.
Die EU hat von Januar bis Juli über die Hälfte aller russischen LNG-Exporte gekauft
Ein glasklarer Wachstumskurs also, trotz des Krieges, wobei sich als nennenswerte Importeure von russischem LNG laut einem Bericht von ERR.ee neben Frankreich und Spanien auch Belgien, die Niederlande, Griechenland, Portugal, Finnland und Schweden hervorzutun scheinen.
Insgesamt hat die EU zwischen Januar und Juli laut Euronews schätzungsweise 52 Prozent aller russischen LNG-Exporte gekauft. Ein Marktanteil, der die 49 Prozent von 2022 und erst recht die 39 Prozent-Marke von 2021 klar übersteigt.
Beim Erdgas hingegen stimmt die Rechnung auch für Simson eindeutig, da die EU-Länder ihre Abhängigkeit von teils 40 Prozent (und mehr) drastisch runtergefahren haben. Da passen politische Erzählung und Kurve eindeutig zusammen.
Trotzdem bleibt die Frage, wie es sein kann, dass russisches LNG einen derart steigenden Anteil innerhalb der EU ausmacht. Die Antwort dürfte lauten: Es liegt am vergleichsweise günstigen Preis und am fehlenden Konsens der Mitgliedstaaten, voll auf „njet“ zu schalten.
„Während die EU den Krieg anprangert, steckt sie Geld in Putins Taschen“
Dieser Konsens sei noch nicht erreicht, sagt Simson, man arbeite auf EU-Ebene aber an einer Lösung. Und dann stellt sich noch die Frage, ob es denn wirklich schlau wäre, nun auch radikal auf das russische Flüssiggas zu verzichten.
Der estnische LNG-Experte Javad Keypour von der Technischen Universität Tallinn dazu: „Das wäre es nicht, da ein generelles Verbot zu einem Anstieg der Ölpreise führen könnte, was Ölproduzent Russland wiederum an anderer Stelle in die Karten spielen würde.“
Es ist und bleibt also nicht so einfach, sich komplett vom russischen Energietropf abzunabeln. Dafür kann man angesichts der massiven energetischen Umwälz-Prozesse durchaus Verständnis haben. Aber Krieg hier? Und Wachstum da? Da passt die politische Erzählung eindeutig nicht.
Jonathan Noronha-Gant von der Menschenrechtsorganisation Global Witness bringt es auf den Punkt: „Während die europäischen Länder den Krieg anprangern, stecken sie Geld in Putins Taschen. Jeder Euro bedeutet mehr Blutvergießen.“