Das Ringen um die Talente
Arbeitslosigkeit in Estland auf Jahrhunderttief, Startups besorgt
Im ersten Quartal 2019 lag das Konjunkturwachstum bei 4,4 Prozent. Estlands Wirtschaft wächst so stark, dass ihr langsam die Arbeitskräfte ausgehen.
Die am Montag gestartete Startup Week Tallinn muss sich mit dem Thema des Fachkräftemangels auseinandersetzen. Marika Truu, die Chefin von Startup Estonia, einer Regierungsinitiative, die die estnischen Startups fördert, zeigt sich um den Mangel an Fachkräftenachswuchs in Estland besorgt. Einen Seitenhieb an die Rechtspopulisten, die derzeit an der Regierung beteiligt sind, kann sich Truu nicht verkneifen.
Arbeitsmarktfakten
Das Statistische Amt Estlands vermeldet heute eine Arbeitslosenquote, die, mit 3,9 Prozent, in diesem Jahrhundert noch nie so niedrig gelegen hat. Vor genau einem Jahr lag die Quote noch bei 5,2 Prozent. Die Beschäftigungsquote stieg in allen Branchen und Altersgruppen. Doch besonders hoch lag sie naturgemäß bei der Altersgruppe der 25- bis 49-Jährigen (84,3%). So langsam bekommen die Unternehmen Schwierigkeiten damit, ihre Stellen zu besetzen. Erst kürzlich meldeten die Arbeitsmarktanalysten 10.000 offene Stellen in Estland.
Estnische Startups beklagen Fachkräftemangel
Besonders hart trifft der Arbeitskraft- bzw. Nachwuchsmangel Estlands agile Startup-Szene. Sie muss immer härter um Fachkräfte ringen.
Die estnische Startup-Branche entwickelt sich rasant und sammelt immer neue rekordverdächtige Investmentsummen ein. Die Unternehmen, die in Estland ihren Hauptsitz haben, müssen sich trotz idealer Bedingungen in ihrem Ökosystem einem starken Wettbewerb um Arbeitskräfte stellen.
„Einerseits haben wir ein Geschäftsumfeld, das frei von bürokratischen Hürden ist, das macht Estland attraktiv“, sagte Marika Truu im Rahmen der Startup Week Tallinn gestern gegenüber dem Nachrichtendienst BNS, „Andererseits haben wir nur 1,3 Millionen Einwohner, was bedeutet, dass alle unsere erfolgreichen Startups, die hier ihre Büros behalten, im großen Wettbewerb um Talente stehen.“
„Wir müssen Estland sehr gut präsentieren, damit Talente hierher kommen wollen.“, so Truu weiter.
Spezielles Startup-Visum ermöglicht Talenten den Zugang zum estnischen Arbeitsmarkt
Rund 20 Prozent der Beschäftigten im estnischen Startup-Sektor kommen aus dem Ausland. Ihr kultureller Hintergrund ist dabei durchaus divers; die meisten Neuankömmlinge stammen aus Brasilien, Ukraine, Russland, der Türkei und Indien.
Etwa 5.000 Menschen seien derzeit in der Startup-Branche beschäftigt, sagte Marika Truu. Estland bietet qualifizierten Kräften ein sogenanntes Startup-Visum, das jungen Menschen ermöglicht, nach Estland auch von außerhalb der EU einzuwandern.
In der ersten Jahreshälfte haben estnische Startups bereits 160 Millionen Euro an Investitionen eingesammelt.
Obwohl die Möglichkeiten und das Geld da sind, sei es schwierig, Fach- und Führungskräfte nach Estland zu locken, sagte Truu.
„Der Grund, warum unsere Startups in der Regel ab einer bestimmten Phase das Land verlassen müssen, ist, dass sie hier beispielsweise keinen internationalen C-Level-Manager [Führungskraft auf Geschäftsführungsebene und direkt darunter, CEO o. CFO, Anm. d. Red.] anlocken können“, erklärte sie.
„Die Ursachen dafür sind unterschiedlich: Verfügen wir, beispielsweise, über weitere Unterstützungsmöglichkeiten? Meistens möchten diese Leute mit Familien anreisen, und sie werden danach schauen, ob sie auch für den Ehepartner einen guten Job finden können, oder, ob sie eine gute Schule für ihre Kinder finden können, in denen auch in Englisch unterrichtet wird.“
Das Thema, wie man ausländische Top-Spezialisten anziehen könne, finde inzwischen erfreulicherweise, so Truu, sowohl auf nationaler als auch auf kommunaler Ebene Beachtung. Die Infrastruktur rund um die attraktiven Jobs, z.B. fremdsprachige Arztpraxen, genügend Plätze an internationalen Schulen etc., soll wachsen. Jedoch sicherlich nicht über Nacht.
„Dies ist eine langfristige Arbeit. Der Schlüssel liegt in der Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen beteiligten Parteien“, sagte Truu gegenüber BNS.
Es fehlen die Weltkonzerne
Die zweite große Herausforderung für lokale Startups ist das Fehlen global agierender Großunternehmen.
„Wenn unsere Startups mit wirklich großen Unternehmen zusammenarbeiten möchten, müssen sie diese an anderer Stelle suchen“, sagte Truu. „Am besten wäre es, wenn große Unternehmen mit einer gewissen Regelmäßigkeit nach Estland schauten und nach interessanten Ideen suchten oder sich dort niederließen.“
„Manchmal kommen große Konzerne nach Estland, wie zum Beispiel aus Japan, die am Puls der Zeit zu bleiben versuchen. Aber das alles sollte systematischer geschehen, damit nicht nur einzelne Konzerne zu einem einmaligen Besuch erscheinen, sondern damit sie regelmäßig hierhin kommen.“
Um den Ruf Estlands besorgt
Um große Unternehmen und ausländische Talente anzuziehen, muss Estland einen sehr guten Ruf haben, dessen Aufbau eine kontinuierliche Arbeit erfordert. In Bezug auf die aktuellen politischen Entwicklungen und Äußerungen von Mitgliedern der rechtspopulistischen Regierungspartei, EKRE, äußerte sich die Chefin von Startup Estonia besorgt.
Ausländer in Estland müssten sich willkommen fühlen, so Marika Truu zum BNS.
Das einwöchige Festival Startup Week Tallinn bringt über 4.000 Startup-Unternehmer, Investoren und Interessenten in der estnischen Hauptstadt zusammen. Die Veranstalter bezeichneten ihr Event am Dienstag als eines der größten Veranstaltungen dieser Art weltweit.
ap