Sabotage? Unfall?
Estland: Krimireife Spurensuche zum Bruch der Ostsee-Pipeline Balticconnector
Die Beschädigung der Balticconnector-Gaspipeline im Oktober 2023 löste international große Irritationen aus, da es sich nach Nord Stream 1 und 2 um den nächsten potenziellen Anschlag auf kritische Infrastruktur in der Ostsee handelte.
Weil zur Ursache und möglichen Täterschaft auch hier noch wenig bekannt ist, haben estnische Reporter nun, gut vier Monate nach der Leckage, zusammen mit mehreren Sicherheitsexperten alle bis dato vorliegenden Erkenntnisse auf ihre Plausibilität hin geprüft.
Vorab die grundlegende Einschätzung der Rechercheure: Sollte es tatsächlich ein Unfall gewesen sein, der in der Nacht vom 07. auf den 08. Oktober 2023 zum plötzlichen Druckabfall in der zwischen Finnland und Estland verlaufenden Gaspipeline führte, wäre dieser überreich an Merkwürdigkeiten.
Zunächst einmal wurde jedoch die Frage beleuchtet, wie die Schifffahrt auf der Ostsee überhaupt im Blick behalten wird. Hierzu sagt der wirklich spannende Bericht, dass sowohl zivile als auch militärische Einheiten die Verkehrssituation sehr genau verfolgen.
Im estnischen Zuständigkeitsbereich, wo der Bruch der Pipeline festgestellt wurde, hat aus ziviler Sicht eine Spezialabteilung der Verkehrsverwaltung mit Sitz in Tallinn das Fernglas in der Hand. Hier werden täglich etwa 50 Schiffe überwacht, von denen etwa die Hälfte in Bewegung sind, der Rest liegt vor Anker.
Die wichtigsten Informationen über die Position der Schiffe stammen aus dem automatischen Identifizierungssystem (AIS). Dabei handelt es sich um öffentliche Informationen, die theoretisch jeder auf Online-Plattformen wie Marine Traffic einsehen kann.
Das Monitoring des Seeverkehrs ist engmaschig und verlässlich, selbst wenn getrickst wird
Aber: Obwohl AIS für zivile Schiffe obligatorisch ist, kann es jederzeit abgeschaltet und theoretisch sogar gefälscht werden. Das zeigt bereits, dass die Dinge auf See nicht immer so eindeutig sind, wie es die Ermittler gerne hätten.
Glücklicherweise kommen für die Überwachung auf estnischer Seite Einheiten des Operationszentrums der Marine und der Grenzschutzbehörde (PPA) hinzu, sodass man in der Summe dann doch ein 100-prozentiges Lagebild vom Verkehr auf der Ostsee voraussetzen kann.
Denn technische Systeme mit Radar und Sonar können selbst diejenigen im Blick behalten, die sich via AIS nicht zu erkennen geben wollen. Darüber hinaus patrouillieren drei Marineschiffe rund um die Uhr. Kurzum: Das Monitoring ist engmaschig und verlässlich, selbst wenn getrickst wird.
Mit Blick auf die Balticconnector-Ereignisse konnten sowohl die zivile Schifffahrtsbehörde als auch die Marine bestätigen, dass das unter der Flagge Hongkongs fahrende, aber einem chinesischen Unternehmen gehörende Containerschiff „Newnew Polar Bear“ am 07. Oktober 2023 gegen 17.20 Uhr in politisch mit Estland assoziierte Gewässer einlief.
Das 169 Meter lange Schiff meldete sich wie üblich bei der Leitstelle. Alles schien normal zu sein, wenngleich über der Ostsee an diesem Tag eine ruppige Sturmfront ihre Kraft entfaltete. Gründe, der Newnew Polar Bear besondere Aufmerksamkeit zu widmen, gab es aber nicht.
Die Newnew Polar Bear auf völlig neuen Pfaden unterwegs – aus Gründen
Eine gewisse Aufmerksamkeit erhielt sie hingegen im Vorfeld, da das Frachtschiff als erstes überhaupt für eine Hin- und Rückfahrt auf der Route auserkoren war, die den europäischen Teil Russlands mit Zielhafen St. Petersburg über die Arktische Seeroute mit China verbindet.
Dazu muss man wissen, dass die Begleiterscheinungen des Klimawandels Passagen in früher nicht für möglich gehaltenen Nordregionen inzwischen „freimachen“, wenngleich die Newnew Polar Bear für ihren Weg auf die Dienste des 260 Meter langen Eisbrechers Sevmorput angewiesen war.
Der stählerne Wegbereiter gehört dem staatlichen russischen Atomkonzern Rosatom, wo dem Bericht zufolge auch die Erlaubnis der Newnew Polar Bear zum Befahren der arktischen Route ausgesprochen worden sein soll.
Sinn macht das auch deshalb, weil Russland angesichts der Sanktionen infolge des Ukraine-Krieges neue Handelsverbindungen mit Asien benötigt. Keine Geringere als die Newnew Polar Bear war demnach Wegbereiter der nördlichsten Handelsachse nach Fernost. Und Russland war klar mit an Bord bzw. mit im Boot. Das nur zur Schärfung des Bildes.
In besagter Nacht fuhren schließlich beide Schiffe, die Sevmorput leicht in Front, nur wenige Minuten getrennt in den Finnischen Meerbusen ein. Und ja, alles passt zu dem Zeitfenster, in dem der Druck in der Balticconnector-Gaspipeline plötzlich rapide abnahm.
Bemerkt wurde der Druckabfall von der Wartungsleitung der für die estnische Seite des bilateralen Pipeline-Projektes verantwortlichen Elering AS. Erste Messungen wiesen gleich auf einen Schaden im Offshore-Teil der Gasleitung hin. In etwa 60 Metern Tiefe.
“Wie kann ein Schaden in einer solchen Tiefe entstehen?“
ERR.ee zitiert den damals wachhabenden Ingenieur Tiit Toomits: „Wie kann ein Schaden in einer solchen Tiefe entstehen. Durch ein Schiff, einen Anker? In dieser Nacht stürmte es. War es also eine Notlage, technisches Versagen oder Fahrlässigkeit?“, schildert er seine ersten Gedanken.
Wegen des schlechten Wetters konnte erst zwei Tage später ein finnischer Marineroboter den Riss in der Gasleitung (s. Bild) feststellen. Zudem stellte sich heraus, dass eine Kommunikationsleitung zwischen Estland und Finnland nicht mehr richtig funktionierte. An Zufälle glaubte nach Nord Stream eh kaum jemand.
Dazu gehört auch Alexander Lott, der am Norwegian Center for the Law of the Sea forscht und in der Sache eine ziemlich klare Position vertritt: „Russland hat Jahre damit verbracht, Westeuropas wichtige Meeresinfrastruktur in der Nord- und Ostsee und anderswo genau zu studieren.“
Dies sei häufig mithilfe sogenannter Forschungsschiffe geschehen. „Und hier waren die AIS-Systeme in der Regel ausgeschaltet“, ist sich Lott sicher. Dennoch bleibt der Fokus der Ermittler, soweit bislang bekannt, klar auf der Newnew Polar Bear.
Es ist ja auch plausibel, denn bei dem Frachtschiff, das am Tag nach dem Druckabfall in den Hafen von St. Petersburg einfuhr, wurde das Fehlen eines Ankers dokumentiert. Ein kapitaler Verlust, mit dem der Frachter – schon am 11. Oktober – nie und nimmer wieder in See hätte stechen dürfen.
Rein Raudsalu, Dozent an der estnischen Schifffahrtsakademie, dazu: „Das ist hoch interessant, denn kein Schiff darf ohne zwei Anker einen Hafen verlassen. Das deutet für mich darauf hin, dass auch die russische Schifffahrtsverwaltung involviert ist.“
Erst Tage nach der Leckage barg die finnische Marine den beschädigten Anker
Leider war es unmöglich, das Schiff jenseits der finnischen und estnischen Gewässer zu stoppen, die Behörden waren ja noch auf Spurensuche. Erst mehrere Tage nach der Leckage an der Pipeline barg die finnische Marine schließlich den beschädigten Anker auf dem Meeresgrund.
Auch Anfragen bei der chinesischen Botschaft und der Reederei verliefen im Sande. Kurzum: Von Bord des Frachters wird es wohl keine erhellenden Informationen mehr geben.
Also müssen Theorien ausgearbeitet und geprüft werden. Und hier passt nach Ansicht der an dem Recherchebericht beteiligten Experten vieles nicht zusammen – jedenfalls dann, wenn man nach Argumenten für einen Un- oder Zufall sucht.
Erstens: Ein Anker muss auf See auf mehrere Arten gesichert werden. Zweitens würde das Lösen einer Ankerkette dieser Länge, selbst wenn alle Bremsmechanismen gebrochen wären, laute Geräusche und starke Vibrationen verursachen. Alles gut registrierbar, selbst bei Sturm.
„Ein sechs oder acht Tonnen schwerer Anker würde 100 Meter in die Tiefe fallen und dabei eine Ankerkette hinter sich herziehen, von der jeder Meter mehr als 100 Kilogramm wiegen muss. Es ist unvorstellbar, dass niemand an Bord dies gespürt hat oder davon wusste“, sagt Dozent Raudsalu.
Klar, Unfälle auf See passieren, vor allem bei Sturm, aber in diesem Fall liegen zwischen den bekannten Schadensstellen (Pipeline und Kommunikationskabel) rund 180 Kilometer, was fast neun Stunden Fahrt bedeutet.
“Wie kann man einen Anker übersehen, der hinter einem her schleift?“
„Wie kann man einen Anker übersehen oder nicht registrieren, der hinter einem her schleift? Das ist unmöglich“, bekräftigt Raudsalu. Hinzu kommen hoch interessante Bildschirmaufzeichnungen der Schiffsverkehrskontrolle von diesem Abend, die ERR.ee vorlagen.
Darauf zu sehen: Die Newnew Polar Bear behielt über einen langen Zeitraum eine konstante Geschwindigkeit von rund 11 Knoten. Aber als die Rechercheure genau hinsahen, stellten sie fest, dass sich just beim Überqueren von Balticconnector – um 1.21 Uhr – die Geschwindigkeit auf 6 Knoten fast halbierte.
Antworten auf alle Ungereimtheiten müssen freilich die laufenden Untersuchungen liefern. Aber klar ist auch, dass die Dinge verdächtig sind. Sehr verdächtig sogar, woran natürlich auch die Frage nach den möglichen Motiven geknüpft ist.
Für Michael Delaunay, der an der französischen Seefahrtsakademie auf Unterwasserinfrastrukturen spezialisiert ist, gibt es – zumindest im Falle nachgewiesener Sabotage – zwei Hauptaspekte, die nicht wirklich positiver Natur sind.
„Erstens könnte es ein technischer Test gewesen sein, wie Kabel und Pipelines am Seeboden effektiv zerstört werden können. Und die Fähigkeit, Verbindungen zu unterbrechen, kann vor allem dann sehr wichtig sein, wenn man einen Krieg plant oder sich darauf vorbereiten will“, so Delaunay.
Als zweiten Punkt nennt er das Senden einer Botschaft an die NATO-Länder in der Region. „Sind wir wirklich darauf vorbereitet, wenn am Vorabend eines Krieges ein Frachtschiff mit einer russischen Spezialeinheit nicht nur zwei, sondern gleich alle wichtigen Verbindungen ins Visier nimmt?“
Gute Frage, nächste Frage.