Forscherteam gegen Geschlechterungerechtigkeit
Lohnlücke: Estland bleibt trotz Rückgang trauriger Spitzenreiter
Es ist ein knappes Rennen zwischen Deutschland und Estland, in welchem Land ist die Lohnkluft zwischen Männern und Frauen größer? Um es kurz zu machen: Estland liegt knapp vor Deutschland. Doch ein estnisches Wissenschaftsprojekt möchte das jetzt ändern.
Im Durchschnitt verdienten Frauen in Estland 2019 nur etwa 83 Cent für jeden Euro, den ein Mann einnahm. Die geschlechtsspezifische Lohnlücke – die sogenannte Gender Pay Gap – verringerte sich im Vergleich zum Vorjahr auf 17,1 Prozent, wie das estnische Statistikamt meldete. Dennoch bleibt das Land im EU-Vergleich Negativ-Spitzenreiter.
Zur Erforschung und Bekämpfung der Lohnlücke gab die estnische Regierung die sogenannte REGE-Studie (Reducing the Gender Wage Gap) in Auftrag. Diese wird seit 2019 bis voraussichtlich 2021 von der Universität Tartu, der Technischen Universität Tallinn und dem estnischen Statistikamt durchgeführt. Sie untersucht anhand der Daten von über 125.000 Menschen die verschiedenen Faktoren der Lohnlücke. Darauf aufbauend präsentieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konkrete Lösungsvorschläge.
Die offiziellen Zahlen des europäischen Statistikdienstes Eurostat zu 2019 werden erst im nächsten Jahr vorliegen, dennoch bleibt Estland wohl im EU-Vergleich auf der ungewollten Spitzenposition: Nirgendwo ist die Kluft zwischen den durchschnittlichen Löhnen der Geschlechter größer.
2018 errechnete Eurostat für Estland eine Geschlechterlohnkluft von 22,7 Prozent. Traditionell liegen die EU-Zahlen aufgrund der abweichenden Berechnungsart etwas über den Werten der nationalen Statistikämter. Mit 20,9 Prozent folgte Deutschland auf dem zweiten Rang. Die Schlusslichter bildeten Italien (5 Prozent), Luxemburg (4,6 Prozent) und Rumänien (3 Prozent).
Die Werte von Eurostat als 1:1-Index für Diskriminierung zu sehen, klingt verlockend – doch dieser Schluss ist so schnell wie irreführend. Der errechnete Wert stellt den Unterschied im Brutto-Durchschnittsgehalt von Männern und Frauen dar. Damit diese Werte aussagekräftig sind, sei ein etwa gleichhoher Prozentsatz erwerbstätiger Frauen anzunehmen.
In Deutschland, Skandinavien und den baltischen Ländern liegt der Anteil der Erwerbstätigen unter den Frauen aber bei über 70 Prozent – das sind die höchsten Werte in der EU. In Italien und Rumänien liegt ihr Anteil hingegen nur knapp über 50 Prozent. Der geringere Frauenanteil auf dem Markt ergibt einen trügerisch niedrigeren Wert in der Berechnung des Durchschnittseinkommens.
Die letztendliche Lohnlücke ist – überall in Europa – ein Ergebnis mehrerer Faktoren. Der REGE-Studie zufolge können in Estland nur etwa 40 Prozent dieser Faktoren mit statistischen Methoden erklärt werden. 60 Prozent bleibt somit ein Zusammenspiel verdeckter Aspekte, darunter die Gehaltspolitik der Unternehmen sowie Diskriminierung.
Ein Hauptunterschied zwischen der Lage in Estland und dem Rest Europas liegt nach Einschätzung der Projektgruppe im hohen Segregationsniveau auf dem estnischen Arbeitsmarkt. Sowohl im Bereich der sogenannten vertikalen als auch horizontalen Segregation liegt Estland in Europa auf dem ersten Platz.
Vertikale Segregation bezeichnet die ungleiche Verteilung von Männern und Frauen in unterschiedlichen Positionen innerhalb der gleichen Branche. Während zum Beispiel Frauen etwa 76 Prozent der estnischen Dienstleistenden stellen, ist nur jede dritte hohe Führungskraft weiblich.
Horizontale Segregation hingegen steht für die ungleiche Verteilung der Geschlechter auf verschiedene Wirtschaftssektoren. Im schlechtbezahlten estnischen Bildungssektor etwa sind fast acht von zehn Beschäftigten Frauen, ähnlich wie im Finanz-, Versicherungs- und Dienstleistungsbereich. Bau-, Forst- und Landwirtschaftsgewerbe werden hingegen von Männern dominiert.
Der Studie zufolge könnte die Lücke bei gleichmäßiger Verteilung der Geschlechter um bis zu einem Drittel minimiert werden. Doch die Bekämpfung der Segregation allein genügt nicht, denn auch innerhalb eines Sektors gibt es teils erhebliche Unterschiede. Im Jahr 2011 betrug der durchschnittliche Lohnunterschied auf der gleichen Position etwa 11 Prozent. Als Hauptgründe hierfür sieht die REGE-Studie vor allem die Auswirkungen von Mutterschaft, Gehaltsverhandlungen und, nicht zuletzt, Diskriminierung.
Von der Lücke besonders betroffen sind Frauen im Alter zwischen 24-54 Jahren – vor allem, wenn sie bald Kinder bekommen. Diesen Umstand bezeichnen die Autorinnen und Autoren der REGE-Studie als Mutterschaftsstrafe. Während das Gehalt von Männern mit der Zahl der Kinder tendenziell zunimmt, zeigt sich bei Frauen eine gegenseitige Tendenz. Wie auch in Deutschland, sinkt in Estland aufgrund des Mutterschutzes oft bei Wiedereintritt in die Arbeitswelt der Reallohn der Frauen.
Im internationalen Vergleich haben Gewerkschaften in Estland eine verschwindend geringe Bedeutung. Von vielen Arbeitnehmern werden sie als Relikt der Vergangenheit angesehen. Im marktgeprägten Estland wirken sich Gehaltsverhandlungen daher weitaus mehr auf die Bezahlung aus. Statistisch gesehen erzielen Männer in den Verhandlungen meist höhere Gehälter, wohl nicht zuletzt aufgrund vorherrschender Rollenbilder. Die Gehaltsschere steige mit zunehmender Lohnhöhe besonders schnell. „Je höher das Gehalt, desto unverständlicher ist die Lohnlücke“, heißt es auf der Webseite des Projekts.
Seit 2010 haben viele Faktoren bereits zur Verringerung der estnischen Lohnlücke beigetragen: 2018 wurde zum Beispiel die Freigrenze beim Elterngeld angehoben. Somit steht den meist weiblichen Elterngeldempfängern nun offen, bis zu 1774,05 Euro zu verdienen, ohne den Anspruch auf Beihilfe zu verlieren. Das entspricht dem 1,5-Fachen des Durchschnittslohnes.
Vor allem in den öffentlichen Sektoren Bildung und Gesundheit, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, wachsen die Löhne unterdes schneller als im Durchschnitt. Die größten Lohnlücken finden sich nach wie vor im Privatsektor, vor allem in Firmen mit ausländischer Trägerschaft. Besonders benachteiligt seien dort vor allem Frauen mit russischem Hintergrund.
Liisa Pakosta – estnische Ombudsfrau für Gleichstellung – betont, dass das estnische Bewusstsein für die Thematik langsam steigt. Das Interesse der Firmen an entsprechenden Schulungen sei gestiegen und auch die Möglichkeit zur offiziellen Beschwerde werde von den Arbeitnehmerinnen immer aktiver genutzt. Den Schlüssel zur Lösung des Problems sieht Pakosta in der Aufklärung: Gemeinsam mit dem Sozialministerium und dem Statistikdienst startete ihre Kanzlei im vergangenen Jahr eine App, die Einzelpersonen die Orientierung erleichtern soll.
Das Programm ermöglicht es, das eigene Gehalt mit den vorliegenden Daten von 110 Berufen zu vergleichen, aufgeschlüsselt nach Landkreis und Geschlecht. Diskriminierungen sollen so leichter erkannt und gemeldet werden können. Man bevorzuge den Weg der Information wie in Dänemark gegenüber Quotenregelungen wie in Deutschland, sagte Jaan Masso, leitender Forscher für angewandte Ökonometrie an der Universität Tartu.
Allerdings weigern sich einige größere Unternehmen bislang, öffentliche Gehaltsauskünfte zu erteilen. Rückenwind bekommen sie neben Wirtschaftsverbänden auch aus der Regierung. Die rechtskonservative Vaterlandspartei (Isamaa) und die rechtspopulistische EKRE (Eesti Konseratiivne Rahvaerakond) sehen keinen Bedarf für einen Veröffentlichungszwang.
Finanzminister Martin Helme (EKRE) gab bekannt, er sehe keine systematische Diskriminierung und daher auch kein Bedürfnis nach der Datenerhebung. Frauen stehe es frei, sich in besserbezahlten Berufen verdient zu machen.
Die Gleichstellungsbeauftragte sieht die Wurzeln jedoch tiefer. Es reiche nicht, bei den einzelnen Frauen anzusetzen. Damit sich etwas ändern könne, sagte Pakosta im Interview mit ERR, sei ein grundsätzliches Umdenken erforderlich:
„Eine Person kann nicht immer frei entscheiden. Selbst in der Schule kann es vorkommen, dass jeder Schüler einer Klasse das Technologieprofil wählen möchte. Wenn es dann keine Plätze mehr gibt, werden die Mädchen automatisch zum Häkeln geschickt, da das nichts für Jungen sei. Nur wenige 10-Jährige sind in der Lage, sich im Alltag gegen solche sozialen Geschlechternormen zu stellen.“
Auch die Corona-Pandemie wirke sich womöglich auf die Situation aus. Pakosta erwartet, dass die damit einhergehende Wirtschaftskrise die Kluft zwischen den Gehältern wieder vergrößern könne. Ihre Sorge ist nicht unbegründet: Während sich die Lohnlücke in den 2000er Jahren in fast allen Ländern Ost- und Mitteleuropas verringerte, war sie in Estland 2008 und 2009 deutlich angestiegen – parallel zur Krise.
Um Rückschritte zu verhindern, sei eine Erholung der Wirtschaft somit auch ein Garant für faire Bezahlung, betont Pakosta:
„In diesem Jahr müssen wir die Wirtschaftskrise dringend überwinden, da sich in schweren Krisen die Situation der Schwächeren in der Regel noch verschlechtert und die Klüfte noch größer werden.“ Estland sei zwar auf dem Weg in die richtige Richtung, der Kampf gegen die Ungleichheit ist jedoch kein Sprint, sondern ein Marathon.
Marcel Knorn