Magische Momente in der Welt der finno-ugrischen Völker
Ein Museum wie kein anderes – ERM in Tartu
Wenn eine Nation ihre Geschichte erzählen will, womit fängt sie an? Die Esten beginnen mit dem Satelliten „ESTCUBE-1“ und dem Tigersprungprogramm, das sie seit 1996 zu den Vorreitern der Digitalisierung macht. Gleich auf den ersten Metern der Dauerausstellung des ERM zeigt sich, was die estnische Identität prägt: Innovation, Zukunftszugewandheit und ein starkes Bewusstsein um den Wert der Freiheit. Und gleichzeitig niemals die eigenen, uralten kulturellen Wurzeln vergessen. Für diese steht der massive Opferstein, der kurz hinter dem Eingang zwischen Laptop, Satellit und Erinnerungen an die Unabhängigkeitsbewegung der 1980er ruht. Und auf dem die Besucher heute immer wieder Münzen hinterlassen.
(Foto: Dr. Martin Pabst)
Entlang der langen Halle widmen sich Seitenräume Themen wie „Volk und Staat“, „Städte in der Stadt“, „Was wir kochen“ oder „Leben auf dem Land“. „Parallele Welten“ erzählt beispielsweise vom Leben im Kalten Krieg: Geschichten von Liebe und Freundschaft, Freude und Kummer, Entscheidungen und Fügungen.
Begegnungen
Das Estnische Nationalmuseum bricht mit Konventionen. Die moderne Architektur überrascht dabei am wenigsten. Schon der Titel der Dauerausstellung „Begegnungen“ verrät, dass es nicht darum geht, entlang einer Chronologie eine nationale Meistererzählung zu vermitteln. Man begegnet Estland und seinen Bewohnern der verschiedenen Jahrhunderte, wie man eben Menschen kennenlernt.
Die Ausstellung ist voller moderner Technik, aber mit einer sehr estnischen Selbstverständlichkeit und Understatement. Es gibt eben keine normalen Texttafeln mehr, nur noch digitale Anzeigen. Diese funktionieren wie E-Book-Reader, und sobald man seine Eintrittskarte vor die Anzeige hält, wechselt die Anzeige in die Sprache des Besuchers. RFID-Technologie sei Dank. Ebenso unaufgeregt und dezent sind alle digitalen Visualisierungen, die auf den vielen Monitoren zu sehen sind.
Echo des Urals
Unten folgt man einer Art Fluss durch mit uralten Symbolen verzierte Gänge von einem Raum zum nächsten. So begegnet man nach und nach den kulturellen „Vettern“ der Esten. In zurückhaltend, aber effektvoll gestalteten Räumen gewinnt man Einblicke in deren traditionelle Lebensweisen, untermalt mit atmosphärischen Geräuschen: Gesang und Schafblöken an dem Haus der Komi. Wellenplätschern und Kranichgeschrei bei den livischen Fischern. Heilender Wind und Rentierblöken bei den Sami. So ist – wie in der Hauptausstellung – immer eine Geräuschkulisse gegeben, doch nie dröhnender Lärm, da niemals alles zugleich ertönt.
Das Nationalmuseum am Rand
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„Freude für den ganzen Tag“ verspricht der Prospekt des ERM. Und man sollte sich die Zeit nehmen. Für eine einmalige Entdeckungsreise. Für ganz viele spannende Begegnungen mit Estland und den Esten. Für magische Momente in der Welt der finno-ugrischen Völkerschaften. Und für ein unglaubliches Erlebnis, dass „Museum“ so völlig anders sein kann, als man es gewohnt ist.
Dr. Martin Pabst
Über den Autor Dr. Martin Pabst studierte Geschichte und Theologie und wurde mit einer Arbeit zur Reformationsgeschichte Rigas promoviert. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Leiter des Deutsch-Baltischen Jugendwerks sowie freiberuflich als Autor, Studienleiter und Vortragsredner. dr-martin-pabst.de // twitter.com/Dr_Martin_Pabst |