„Alles wurzelt in einem emotionalen Erlebnis“
Nordischer Klang-Festival: Jazzmusikerin Karmen Rõivassepp aus Estland im Interview
Vor wenigen Tagen ging er los, der Nordische Klang. Das Kulturfestival in Greifswald feiert in diesem Jahr 30. Jubiläum. Und wie immer dreht sich das Programm voll und ganz um den Norden Europas. Nach einer Corona-bedingten Digitalphase (7.–22. Mai 2021) soll im hochsommerlichen Teil 2 der Veranstaltung (23.-25. Juli + 19.-22. August) endlich wieder in den Live-Modus geschaltet werden.
Mit dabei sein wird dann auch Karmen Rõivassepp aus Estland. Ihr Programm: Jazz. Ihre Stimme: wundervoll klar. Ihre Ansichten: grundsympathisch. Nina Babuliack hat die junge Künstlerin interviewt und war so freundlich, uns mit auf den Zug aufspringen zu lassen. Es folgt ein Auszug aus dem Interview, das komplett auf der Webseite zum Festival zu finden ist. Hier der Link.
Karmen, du bist Jazzsängerin. Warum Jazz? Und welche Musikrichtungen magst du außerdem?
Karmen Rõivassepp: Ich hatte schon immer das Bedürfnis zu improvisieren, seit ich ein kleines Kind war. Ich habe in sehr jungem Alter mit dem klassischen Piano angefangen, aber ich habe nie völlig die Schönheit daran verstanden und immer das Gefühl gehabt, dass dabei eine gewisse Freiheit fehlte. Also fing ich an, meine eigenen kleinen Song-Skizzen zu schreiben und machte erste Erfahrung mit Improvisation. Seitdem war es um mich geschehen.
Wo hast du Simon Eskildsen, Adrian Christensen und Daniel Sommer kennengelernt?
Karmen Rõivassepp: Seit 2012 habe ich mit den Jungs getrennt voneinander in unterschiedlichen Konstellationen gespielt. Wir haben an der gleichen Musikakademie in Aarhus studiert, und da das Jazzmilieu hier sehr klein ist, war klar, dass man früher oder später alle kennenlernen würde. Es hat nur eine Weile gedauert, die drei in der gleichen Band zu versammeln. Doch am Ende hätte es keinen besseren Zeitpunkt dafür geben können – und jetzt sind wir hier schon vier Jahre zusammen und haben eine wunderbare gemeinsame Zeit.
Wo und wie findest du Inspiration für neue Melodien und Texte?
Karmen Rõivassepp: Es gibt so viele mögliche Wege beim Komponieren, aber für mich ist der zündende Funke eine gefühlsbedingte Idee. Meine Musik dreht sich viel um die Dinge, die ich im täglichen Leben erfahre, oder um Ereignisse, die mich irgendwie berührt oder verändert haben. Und dann gibt es natürlich noch eine Million Kompositionstechniken, die ich für die Entwicklung des melodischen und harmonischen Materials nutze. Aber alles ist verwurzelt in einem bestimmten emotionalen Erlebnis.
Was würdest du denn machen, wenn du keine Musikerin wärst?
Karmen Rõivassepp: Ich wollte Jura oder Medizin studieren, wenn ich bei der Akademie in Estland nicht angenommen worden wäre. Ich wäre wahrscheinlich Therapeutin oder Psychiaterin geworden. Ich war immer fasziniert von Themen, die etwas mit der Psyche zu tun haben. Da ich selber schon mit Ängsten zu kämpfen hatte, interessiere ich mich weiterhin sehr dafür. Wenn die Welt sich aufgrund der Coronapandemie geändert hat, müsste ich mich vielleicht nur für eine neue Ausbildung melden?
2012 bist du nach Dänemark zum Studium nach Aarhus gezogen. Was ist das Besondere an dieser Universität?
Karmen Rõivassepp: Ich bin umgezogen, nachdem ich ein Jahr an der Akademie in Tallinn Musik studiert habe. Als Austauschstudentin kam ich für ein Jahr nach Dänemark, hauptsächlich um zu sehen, wie die Dinge außerhalb Estlands angegangen und unterrichtet werden. Zu dieser Zeit zweifelte ich immer noch sehr, ob ich in der Zukunft in der Musik meine Berufung finden würde. Die Akademie in Aarhus hat mir allerdings viele Türen geöffnet. Es war wichtig, gleichdenkende Leute zu treffen, die vielleicht genau so verloren waren wie ich, um den eigenen Stil und eigene Ideen zu entwickeln. Ich hatte die Freiheit, alles machen zu können, was ich wollte; und das – kombiniert mit dem Ortswechsel und den erstklassigen Einrichtungen – erlaubte mir, meine Kreativität frei laufen zu lassen. Da entschied ich zu bleiben und das war wahrscheinlich die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.
Was kannst du über das Jazzmilieu sagen? Gibt es einen großen Unterschied zwischen Dänemark und Estland?
Karmen Rõivassepp: Ich würde sagen, der größte Unterschied zwischen Estland und Dänemark ist die Landesgröße. Die Jazzszene in Estland ist extrem klein und es kann schwierig sein, erst einmal akzeptiert zu werden und dann aus den Leuten hervorzustechen, die gleichermaßen talentiert und zielorientiert sind. In Dänemark gibt es hingegen eher den Platz für Menschen, die ähnliche Dinge tun, aber jeder hat trotzdem meist sein eigenes Publikum.
Denkst du, dass das Jazzpublikum altert oder dass der Jazz weiterhin ein junges Publikum hat?
Karmen Rõivassepp: Das ist eine wirklich schwere Frage. Ich denke, was wir erkennen müssen, ist, dass Jazz als Genre in steter Entwicklung ist. Ich persönlich kenne so viele Jazzmusiker*innen, die durch Umwandlungen verschiedener und populärerer Stile ein junges Publikum anziehen. Ja, oldschool Mainstream Jazz mag eher ältere Generationen reizen (obwohl ich eine Menge junger Menschen kenne, die ebenfalls total darauf abfahren). Aber wenn wir über Hiphop-inspirierten, Indie oder Electronic Jazz reden, denke ich, dass so etwas definitiv die junge Generation fesselt. Also hängt es wirklich davon ab, was man als Jazzmusik sieht.
Welches war das schönste Kompliment, das du je nach einem Auftritt bekommen hast?
Karmen Rõivassepp: Ich denke das übliche, aber irgendwie ist das beste Kompliment, wenn Leute zu dir kommen und sagen, dass sie die Jazzmusik nie richtig mochten oder verstanden haben, aber dass unser Konzert ihre Ansicht, wie sie Jazzmusik und Jazzsänger*innen wahrnehmen, verändert hat.
Was für Musik hörst du privat?
Karmen Rõivassepp: Ich höre alles und jeden. Es gibt keine Grenzen für mich. Wenn ich mir was auflege, dann soll es mich inspirieren. Und das kann buchstäblich alles mögliche sein – von Klassik zu Mainstream Jazz zu Indie zu Neo-Soul zu Electronica zu Tanzmusik. Derzeit gibt es kein Limit, was natürlich Fluch und Segen zugleich ist, aber es ist definitiv sehr inspirierend!
Mit welchem Musiker würdest du gerne mal in der Zukunft spielen? Und in welchem Land oder in welcher Stadt, wo du noch nie warst, würdest du gerne ein Konzert geben?
Karmen Rõivassepp: Ich war nie eine große Visionärin oder Träumerin, aber ich hoffe, dass ich eines Tages regelmäßig außerhalb Dänemarks spielen werde. Ich liebe es total, aufzutreten und neue Menschen zu treffen und aufregende Kulturen zu erleben. Es ist wahrscheinlich albern, angesichts Corona auch nur daran zu denken, das eigene Haus zu verlassen, aber man weiß nie, es könnte ja doch wahr werden!
Worauf freust du dich in Greifswald? Was erwartest du?
Karmen Rõivassepp: Das wird unser erstes Konzert in Deutschland! Wir freuen uns außerordentlich, die absolut großartige Nordischer Klang-Familie kennenzulernen, andere aufstrebende nordische Künstler*innen zu treffen und eine reale menschliche Erfahrung mit den wundervollen Greifswaldern zu haben!
Hintergrund: Karmen Rõivassepp erblickte 1993 in Estland das Licht der Welt. Sie wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf, weshalb sie bereits als Kind das Klavierspielen erlernte und so die Basis für ihre heutige Karriere im Jazz-Genre legte.
2012 begann Karmen Rõivassepp eine Ausbildung am Jütländischen Musikkonservatorium in Århus. Ihr Debutalbum „Dance of Sounds“ erschien dann 2018 mit Songs in estnischer und englischer Sprache. Auf Anhieb glückte ihr eine Nominierung bei den Danish Music Awards Jazz in der Kategorie „New Danish Jazz Artist“. 2019 ließ sie dann mit ihrer Kür zum „Jungen Jazztalent des Jahres“ auch in Estland aufhorchen. Ein neue Veröffentlichung steht unmittelbar bevor.
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