Europas „größte Stunde“ in der Geschichte
Politiker ruft auf: „Make Europe great again“
Die Vereinigten Staaten sind für Europa und Estland in sicherheitspolitischen Fragen kein verlässlicher Partner mehr – und das gehe weit über Donald Trump hinaus, meint der Bürgermeister der estnischen Hauptstadt Tallinn, Jevgeni Ossinovski. Er fordert in einem Kommentar, dass Europa sich in der Sicherheitspolitik von den USA emanzipieren müsse, da auf Amerika kein Verlass mehr sei.
Die Illusion transatlantischer Sicherheit
In den vergangenen Jahren habe sich gezeigt, dass Europa in strategischen Fragen zunehmend allein dastehe, meint Ossinovski. Ob in der Ukraine, beim transatlantischen Handel oder in globalen Krisen – die USA handeln oft nach rein eigenen Interessen. Das wurde besonders deutlich, als Trump während seiner ersten Amtszeit mit territorialen Forderungen an Dänemark überraschte und sogar mit wirtschaftlichen Sanktionen drohte, sollte Kopenhagen nicht kooperieren.
Die Reaktion Europas? Schweigen. Eine besorgniserregende Passivität, die darauf hoffen lässt, dass Trump irgendwann die Aufmerksamkeit verliert und sich neuen Zielen zuwendet. Doch diese Hoffnung sei trügerisch, so der Sozialdemokrat. Der Trumpismus sei kein vorübergehendes Phänomen, sondern ein Ausdruck tiefer gesellschaftlicher Spaltungen in den USA.
Ein Amerika im Wandel – und seine Folgen für Europa
Trump ist nicht die Ursache, sondern ein Symptom einer zersplitterten amerikanischen Gesellschaft, analysiert Ossinovski. Die wachsende Polarisierung, wirtschaftliche Ungleichheit und Kulturkämpfe haben die politische Landschaft der USA nachhaltig verändert. Der sogenannte „zentristische Pragmatismus“ verliere an Boden, während sich die Parteien radikalisierten.
Während Trumps erste Amtszeit noch von erfahrenen Republikanern begleitet wurde, die seine impulsivsten Entscheidungen abfederten, ist für eine zweite Amtszeit mit einer noch unberechenbareren Politik zu rechnen. Der US-Kongress, oft als Kontrollinstanz gepriesen, hat sich weitgehend der Parteilogik untergeordnet, während das politische System Amerikas die Gewaltenteilung zunehmend untergräbt.
Diese Entwicklungen haben direkte Auswirkungen auf Europa. Trumps Umgang mit der Ukraine zeigt, dass die USA ihre Bündnisse zunehmend nach transaktionalen Interessen bewerten: Wenn es vorteilhaft ist, unterstütze Washington Europa – wenn nicht, bleibe der Kontinent auf sich allein gestellt, so der Bürgermeister von Tallinn.
Europa muss sicherheitspolitisch auf eigenen Beinen stehen
Vor diesem Hintergrund stelle sich für Estland und den Rest Europas die drängende Frage: Sind die in Europa stationierten US-Truppen wirklich eine Sicherheitsgarantie? Kann Europa darauf vertrauen, dass Washington im Ernstfall handele?
Die brutale Wahrheit laute, seiner Meinung nach: Nein. Und wenn diese Frage nicht mit voller Überzeugung mit „Ja“ beantwortet werden könne, müsse Europa seine Verteidigungsstrategie entsprechend anpassen. Die Sicherheit Europas dürfe nicht länger von den Launen eines amerikanischen Präsidenten abhängen.
Die Stunde Europas – Verantwortung für die eigene Zukunft
Dies bedeute nicht nur eine engere militärische Zusammenarbeit innerhalb Europas, sondern auch eine strategische Neuausrichtung der Außen- und Verteidigungspolitik.
Die EU müsse sich darauf einstellen, in Krisensituationen eigenständig zu agieren – sei es in der Ukraine, in der globalen Sicherheitsarchitektur oder bei wirtschaftlichen Herausforderungen.
Eine stärkere Kooperation mit Staaten wie Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich und den nordischen Ländern werde essenziell, um eine gemeinsame europäische Verteidigungsstrategie zu entwickeln, so Ossinovski in seiner Analyse.
Von der Abhängigkeit zur Selbstbestimmung
Die derzeitige transatlantische Unsicherheit solle nicht als Krise, sondern als Katalysator für ein souveräneres Europa verstanden werden. Die Verteidigungsausgaben müssen erhöht, sicherheitspolitische Allianzen gestärkt und eine klare außenpolitische Strategie verfolgt werden – unabhängig davon, ob Washington dies unterstütze oder nicht.
Trump mag die transatlantischen Beziehungen erschüttert haben, doch seine Präsidentschaft könnte auch als Europas „größte Stunde“ in die Geschichte eingehen – der Moment, in dem der Kontinent Verantwortung für seine eigene Zukunft übernahm.