Fernwehforschung in den Ostseeprovinzen
Altes Radtourenbuch aus Estland: von Bierbude zu Bierbude wie 1897
Mit historischen Tourenbüchern können Radfahrer das alte Baltikum heute neu entdecken. Das Tourenbuch von Estland wird nun in Wikisource transkribiert.
Der Damm zwischen Muhumaa und Saaremaa wurde am 27. Juli 1896 eröffnet. Die beiden Inseln im Westen Estlands sollten damals endlich durch stabile Postwege verbunden werden, wünschte nicht nur Schwedens Königin Kristiina.
Die Verbindung funktioniert heute noch – auch für Radfahrer und Radfahrerinnen. 1897 erschien in Reval – dem heutigen Tallinn – für Radfahrer das ‘Touren-Buch von Estland mit Fortführung der Touren bis in die Städte Nord-Livlands’.
“Mit der Herausgabe dieses Büchleins bezwecken wir, dem auch bei uns bereits empfundenen Mangel nach einem Führer durch Estland abzuhelfen, die Touristen von den meist unrichtigen Angaben der Landbevölkerung unabhängig zu machen und ihnen das Notwendige an Auskünften, deren sie auf der Tour bedürfen, zu bieten”, erklärten die Autoren im Vorwort.
Dieses Tourenbuch wurde 2014 in der Estnischen Nationalbibliothek digitalisiert. Seit August 2018 steht es außerdem als Transkriptionsprojekt im Portal Wikisource. Große Teile des Buches sind dort nun elektronisch durchsuchbar. Für Radreisen in Estland steht also eine historische Quelle zur Verfügung, die dem Vergleich mit heutiger Reiseliteratur standhält. Im Detail sind die Informationen 120 Jahre alt, aber Geschichte veraltet nicht. Eine nützliche Ergänzung für die nächste Estlandreise ist das Tourenbuch allemal.
Die nummerierten Radtouren sind in Tabellen beschrieben: Orte, Entfernungen, Sehenswürdigkeiten, Krüge und Bierbuden. Die Städte Estlands werden darin kurz beschrieben. Ein umfangreicher Anzeigenteil mit Werbung der örtlichen Hotels, Fahrradhändler, Werkstätten und Kleidermacher sorgte 1897 für wichtigste Informationen für die radfahrenden Deutschen in Estland.
“Die beigegebene Orientierungskarte, mit ca. 700 Ortsnamen, erleichtert die Übersicht und ermöglicht mit Leichtigkeit die Zusammenstellung jeder beliebigen Reisetour”, heißt es im Vorwort. Auch die Karte wurde in Tallinn digitalisiert: aber, Achtung beim Druck! Es handelt sich um ein wirklich großes Großformat.
Das Tourenbuch von Estland wirft auch Fragen auf. Muhumaa und Saaremaa sind in der Orientierungskarte nicht enthalten; beide Inseln sind im Tourenbuch selbst auch nicht erwähnt. Waren die Inseln für die frühen estnischen Radtouristen noch nicht relevant?
Über die Autoren Carl Cristian Alexander Dethloff und Alfons Krause wissen wir wenig – oder sehr viel, je nach Sichtweise: Ein digitalisiertes Mitgliederverzeichnis des finnischen Radfahrerbundes aus dem Jahr 1900, nennt einen in Reval wohnenden Carl Dethloff. Und Alfons Krause ist im Adressbuch des Deutschen Vereins in Estland von 1907 zu finden. Der ersten Innenseite des Tourenbuchs zufolge waren die beiden Männer sowohl Mitglieder im Revaler Velocipedisten-Club als auch in der Allgemeinen Radfahrer-Union, einer der beiden überregionalen Radfahrervereinigungen des Deutschen Reiches.
Ist das Tourenbuch von Estland für Radreisen heute wirklich geeignet? Alle Dörfer, Städte und die Wege dazwischen sind noch an Ort und Stelle. Manche sind ausgebaut und deshalb breiter als um 1900. Die modernen Eurovelo-Routen sind inzwischen allemal eine Radreise wert; auch, wenn die großen Straßen ab Riga in Richtung Westestland häufig als ungemütlich beschrieben und mit der Eisenbahn umfahren werden.
Doch bis Riga reichten die Touren des Tourenbuchs von Estland nicht. Eine zweite Forschungsfrage lautete bis vor Kurzem deshalb: Gab es Ende des 19. Jahrhunderts ein ähnliches Tourenbuch auch für lettische Gegenden?
Im August 2018 digitalisierte die Nationalbibliothek in Riga den Baltischen Radfahrer-Kalender für das Jahr 1897. In dem Buch sind z.B. die Adressen der baltischen Radfahrervereine und die lokalen Radfahrordnungen enthalten sowie 84 Tourenbeschreibungen für die damaligen “Ostseeprovinzen”. Zwei dieser Touren am Ende des Rigaer Radfahrerjahrbuchs führten nach Arensburg auf der Insel Ösel – heute: Kuresaare auf Saaremaa.
Der Damm zwischen den estnischen Inseln wurde also schon 1897 mit dem Rad befahren. Das ist nicht unwichtig und das Ergebnis einer ersten Radreise samt Tourenbuch durch Estland im Sommer 2018.
Jens Bemme
Über den Autor Jens Bemme aus Dresden forscht und twittert zu historischem Radfahrerwissen um 1900. Er studierte Verkehrswirtschaft und arbeitet im Bereich Landeskunde und Citizen Science der SLUB Dresden. Das Tourenbuch von Estland führte ihn im Sommer 2018 mit Umwegen von Tallinn nach Riga. // twitter.com/jeb_140 // jensbemme.de |
Die Nationalbibliothek in Tallinn und die Universitätsbibliothek in Tartu besitzen weitere Quellen der estnischen Radfahrgeschichte; digitalisiert z.B.: Устав Оберпаленского общества велосипедистов-любителей = Statut des Oberpahlenschen Radfahrer-Vereins : [Утв. 19 декабря 1898 г.] http://hdl.handle.net/10062/55196.