Bilaterale Beziehungen auf dem Prüfstand
Estland und Russland: Telefonat der Außenminister verlief friedlich – und konstruktiv
„Estland und Russland sind Nachbarn, und Nachbarn sollten miteinander reden – trotz der Tatsache, dass es Meinungsverschiedenheiten gibt“, gab Estlands Außenministerin Eva-Maria Liimets vielsagend zu Protokoll, nachdem sie am 9. April ein Telefonat mit ihrem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow geführt hatte.
Zur Einordnung: Dass die beiden Länder auf höchster politischer Ebene überhaupt miteinander sprachen, ist nach Lage der Dinge bereits eine Meldung wert.
Das letzte physische Aufeinandertreffen beider Außenminister datiert laut einem Beitrag der Estonian World inzwischen auf das Jahr 2015 zurück. Ein Zeitraum, der deutlich macht, wie wenig man sich in den letzten Jahren offiziell zu sagen hatte.
Stattdessen gab es viel schweigsames Unbehagen, gerade von estnischer Seite, wo man seit Russlands völkerrechtswidriger Übernahme der Krim auch den letzten Rest Vertrauen in den übergroßen Nachbarn verloren zu haben scheint. Dazu Putins nicht enden wollende Regentschaft. Schwierig, schwierig.
Und nun, nach dem Telefonat? Alles besser? Klares Mitnichten, zu vieles bleibt im Vagen respektive Argen. Aber immerhin sahen sich beide Seiten dazu veranlasst, das Gespräch der beiden Topdiplomaten als absolut konstruktiv zu bezeichnen. Und nutzen die Stellungnahmen gleich noch einmal zum Unterstreichen der eigenen Position.
Soweit es Estland betrifft, ist dabei vor allem die überfällige Ratifizierung des Grenzvertrages von 2014 das Hauptanliegen gegenüber Russland. „Ein Grenzvertrag, der in Kraft ist, würde Estland und unseren Verbündeten entscheidende Sicherheit bieten“, teilte Liimets mit, wobei Sicherheit in dem Zusammenhang erheblich weiter gefasst ist als die bloße Sorge vor einer militärischen Intervention Russlands in dem baltischen Land.
„Es geht auch um den (gemeinsamen) Kampf gegen das organisierte Verbrechen, gegen Drogen, Schmuggel und Menschenhandel“, sagt die estnische Außenministerin mit Verweis darauf, dass man weitere bilaterale Konsultationen am Telefon fest vereinbart habe. Das wäre ja mal was.
Die russische Bedingung dafür klingt zunächst einmal kurios. Lawrov bekräftigt nämlich, unabdingbare Voraussetzung für die Ratifizierung sei der Verzicht Estlands auf jedwede Gebietsansprüche gegenüber Russland. Ja, richtig gelesen: Gebietsansprüche Estlands gegenüber Russland!
Dazu muss man Folgendes wissen: Russland sieht ganz bestimmt keinerlei Bedrohungspotenzial in Estland. Warum auch? Dass aber Moskau dennoch mit territorialer Sorge nach Estland blickt, hat Gründe, die in einer jüngeren Episode beider Staaten liegen.
Vor Jahren waren Estland und Russland nämlich schon einmal nahe dran an einem Grenzvertrag. 2005 war das, wobei man den Ratifizierungsprozess im Nachhinein mit einer guten Portion Wohlwollen als missverständlich bezeichnen kann.
Was war passiert? Estlands Parlament hatte als Stein des Anstoßes der internen Ratifizierungsakte eine Präambel hinzugefügt, die sich auf den Friedensvertrag von Tartu aus dem Jahr 1920 bezog.
Das ist aus russischer Perspektive deshalb problematisch, weil darin die theoretische Grenzziehung um einige Gebiete zugunsten Estlands abweicht. Das betrifft vor allem den Raum um die russische Stadt Petseri, die nur einen Steinwurf von der Südostgrenze Estlands entfernt liegt.
War doch nur intern, hieß es danach aus Estland. War es nicht, hielt Russland dagegen, das in der Causa einen möglicherweise langfristigen Territorialstreit sah. Das vorläufige Ende des Abkommens war damit besiegelt.
Nun also möglicherweise der nächste Anlauf, für den Lawrov von Liimets zuallererst eine unmissverständliche Absage an jegliche territorialen Ansprüche erwartet. Dann könne man weitersehen, so der Subtext.
Und überhaupt: „Russland möchte die Bereitschaft seiner Nachbarn sehen, eine normale, nicht konfrontative Atmosphäre der bilateralen Beziehungen zu schaffen“, fügte das russische Außenministerium der Stellungnahme hinzu.
Ein entsprechendes Vertragspapier liegt nun schon wieder rund sieben Jahre auf dem Tisch. Seither ist viel passiert, vor allem nichts Gutes, weshalb man auch bei dem neuerlichen Anlauf stets dessen Scheitern einkalkulieren sollte. Eine Liebesheirat wird das nicht mehr, das ist allen klar.
Daher macht man auch auf estnischer Seite keinen Hehl daraus, wie man die Dinge grundsätzlich bewertet. „Ich habe meinem russischen Kollegen gegenüber zum Ausdruck gebracht, dass wir über die militärische Eskalation in und um die Ukraine sehr besorgt sind“, sagte Liimets abschließend.
Russland müsse in der Angelegenheit seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen und sich um eine friedliche Lösung der Situation bemühten, so die Außenministerin weiter. Laut ihr ist nun also Russland am Zug, was auch immer das bedeutet.
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