Fahrradtour wie 1897 – Teil 3
Saaremaa und Muhu: Zweimal Urlaubsinsel mit Oper und Honig, bitte
Der dritte Teil der spannenden Serie, in der unser Autor, Jens Bemme, die Aktualität des Radtourenbuches von Estland aus dem Jahre 1897 einer praktischen Prüfung unterzieht. Mit seinem Fahrrad fährt er alte Strecken ab, sucht nach Bierbuden von damals und landet am Ende seiner Reise in Lettland. In diesem Teil seines Reiseberichts geht es nach Saaremaa und Muhu.
Mesi heißt auf Estnisch Honig. Am Ende des ersten Tages auf der Insel Saaremaa halte ich auf der Suche nach einer Unterkunft an einem Imkerschild. Die zuvor noch anvisierte Pension finde ich nicht dort, wo ich sie erwarte. Und das eine Hotel am Platz ist zur Zeit ein Ferienlager.
Entlang der Strecke kaufe ich gern Honig, wenn ich welchen finde. Velohonig heißt dieses Hobby. Ein Mesi-Schild in Estland ist so eine Gelegenheit. Margus verkauft mir das gewünschte Glas sofort. In bio veritas ist das Motto der Imkerei, es steht auf seinem T-Shirt. Die weiß-blau gestalteten Etiketten seiner Honiggläser erinnern mich an Griechenland. Dort war ich noch nicht. Dort war ich noch nicht. Hier in Nordeuropa rückt die angekündigte Mondfinsternis immer näher.
Alle etwaigen Gasthäuser bei Võhma sind schon voll, geschlossen oder noch 15 Kilometer entfernt. Dazu meint Margus der Imker: Wenn es nicht zu unbequem sei, könne ich auf dem Dachboden seiner neuen Honigverarbeitung schlafen. Ich freue mich sehr.
Plötzlich bin ich unter Obstbäumen, ein weiterer Gast einer estnischen Geburtstagsfeier. Es gibt gegrillte Stücke vom Schaf und verschiedene Sorten Torten. Wir reden über den vergangenen Deutschunterricht, die Bienen, über das Tourenbuch, über die Schafe der Familie und die hiesigen Trockensteinmauern.
Rund um die Weiden der Familie entstanden fünf Kilometer dieser Mauern in den zwei vergangenen Jahren, gefördert von der EU. Die alten Steinmauern seien auf Saaremaa einst für den Straßenbau verwendet worden. Neu prägen sie wieder Landschaft und Lebensraum für viele – kleine und größere Tiere. Spontaner Ausruf in die Dämmerung: I love the European Union! Ein Extra gibt es: Gegen sechs Uhr morgens leuchten diese neuen Mauern in der Sonne.
Wieder einmal halte ich dann kurz an einer Kirche, diesmal in Kihelkonna. Der auf dem Hügel nebenan freistehende Glockenturm ist einmalig in Estland und ein Halt für die Besuchergruppen in dieser Gegend. Bis nach Kuresaare umrunde ich den Westen Saaremaas, ohne die Küste zu besuchen und dort im flachen Wasser zu wandern. Eine Schweizerin und ein Schweizer, die in Kihelkonna in ein Auto steigen, sind extra dafür hergekommen.
Die Oper hat Kuresaare fest im Griff. In ihren Abendkleidern spazieren die Gäste von den Hotels zur Festung, wo die Operntage veranstaltet werden. Das angereiste Ensemble aus Shanghai nimmt offenbar denselben Weg. Rote Fahrradtaschen passen vermutlich nicht in dieses Bild. Mit sommerlichen Opernabenden ist in Kuresaare höchste Hochsaison; die Hotels sind fast voll. Die Rechnung der Kultur- und Wirtschaftsförderung dürfte aufgehen. Auch die Gastronomie der Inselhauptstadt wird gelobt … und wenn erst die Fähre nach Lettland eines Tages wieder fährt!
Zu guter Letzt: Das strahlend blaue T-Shirt der Tourismusförderung wird noch schnell eingelöst bevor ein Schiff mit mir die Inseln verlässt. Es ist Sonntag, Rückreisende nach Tallinn und anderswo warten in Schlangen vor der Fähre. Die Hinfahrt lag auf einem Wochentag. Auch die Fährpreise reagieren hier heute auf die Nachfrage.
Was bleibt? Saaremaa ist eine Urlaubsinsel im allerbesten Sinne – auch für Radfahrer. Vergleichbar vielleicht mit der Insel Öland, aber Öland ist lang und sehr schmal. Saaremaa ist runder. Vermutlich nicht dichter besiedelt als das estnische Festland; zwischen Orten kann Kilometer fressen, wer will, und die Kiefernwälder sind auf den ersten Blick unspektakulär. Stand da noch eine alte Bockwindmühle an einer Weide nahe der Senfmanufaktur?
Wer mehr Zeit mitbringt, fährt noch ein paar Tage die Küsten entlang. Ich hörte von estnischen Wissenschaftlern, die – vor die Wahl gestellt, wo außerhalb Tallinns ihr neues Institut angesiedelt werden solle – Kuresaare wählten. Aus persönlichen Gründen möglicherweise, aber es passt zur Regionalisierungsstrategie der estnischen Regierung. Und es soll Familien aus Deutschland geben, die immer wieder nach Saaremaa kommen.
Der vierte Teil der Radtour durch Estland erscheint nächste Woche.
Siehe auch:
- Die Entdeckung Estlands mit dem Fahrrad – Fahrradtour wie 1897, Teil 1
- Lihula, my Love – Fahrradtour wie 1897, Teil 2
- Saaremaa und Muhu: Zweimal Urlaubsinsel mit Oper und Honig – Fahrradtour wie 1897, Teil 3
- Die Schotterstraße nach Pärnu – Fahrradtour wie 1897, Teil 4
- Mit Wasser und Wifi – durch die Sümpfe von Soomaa – Fahrradtour wie 1897, Teil 5
- Von Vaidava nach Riga – Ende der Reise – Fahrradtour wie 1897, Teil 6
Jens Bemme
Über den Autor Jens Bemme aus Dresden forscht und twittert zu historischem Radfahrerwissen um 1900. Er studierte Verkehrswirtschaft und arbeitet im Bereich Landeskunde und Citizen Science der SLUB Dresden. Das Tourenbuch von Estland führte ihn im Sommer 2018 mit Umwegen von Tallinn nach Riga. // twitter.com/jeb_140 // jensbemme.de |