Studieren in Estland – Interview
„Gewinne einen Esten zum Freund“
Estland ist ein Hort der Bildung auf hohem Niveau. Die schulischen Fähigkeiten der 15-Jährigen in Estland in den Fächern Geographie, Physik und Chemie sind in Europa unübertroffen, weltweit befinden sie sich auf Rang drei. Auch die Hochschulbildung gehört zur Weltspitze. Grund genug für ausländische Studierende, in Estland ihr Diplom zu machen? Wir sprachen mit Merili Reismann über die Möglichkeiten und mögliche Hürden für internationale Studierende in Estland.
Merili Reismann ist Senior Marketing-Spezialistin im Bereich Internationale Bildung bei der in Estland ansässigen Archimedes Stiftung. Seit etwa fünf Jahren arbeitet sie an der Verbesserung der Marke Study Estonia, ihre Aufgabe dabei ist die Weiterentwicklung der digitalen Präsenz der Marke, sowie die Steigerung der Bekanntheit von Estland als Universitäts- und Bildungsstandort. Internationalen Absolventen hilft sie dabei, die ersten Schritte ihrer Karriere zu machen.
Frau Reismann, wenn unsere Beobachtung stimmt, hat Estland in der deutschen Öffentlichkeit ein blitzsauberes Image. Stark verkürzt: innovativ, gastfreundlich, naturverbunden. Was halten Sie von solchen Attributen?
Es sind großartige Attribute, sie spiegeln die Werte wider, die die Esten seit geraumer Zeit ausmachen. Sie sind in unserer Gesellschaft stark verwurzelt. Seit der Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit vor 26 Jahren, hat sich Estland auf Innovation konzentriert, speziell in den Bereichen elektronischer Dienstleistungen, sowie den Aufbau einer Gesellschaft, in der es möglich ist, effektive Lösungen schnell zu etablieren. Ein Beispiel dafür ist die Steuererklärung, die wir online machen (Dauer: 2 Minuten pro Jahr), oder der Online-Zugriff auf die Schulnoten und Hausaufgaben der Kinder (eKool, Anm. d. Red.). Ein weiteres Beispiel ist die Online-Stimmabgabe bei Wahlen, praktisch, wenn man im Ausland ist. Ich habe es gemacht, als ich beruflich in Indonesien unterwegs war.
Estland ist das erste Land der Welt, das die Online-Stimmabgabe bei Wahlen, sowie die e-Residency eingeführt hat. Zugang zum Internet ist in Estland ein Menschenrecht.
Das schürt natürlich Erwartungen in der Bevölkerung. Die Menschen erwarten von Mal zu Mal weniger Bürokratie. Das führt dazu, dass immer wirkungsvollere Dienste und Tools eingeführt werden, die den Alltag erleichtern.
Dennoch, wenn es um die Natur geht, wird auch deutlich, dass die Esten eine spirituelle Verbindung zur Natur haben. Diese ist in der estnischen Kultur tief verankert, Bäume und die Erde sind wertgeschätzte Objekte, denen eine gewisse Macht innewohnt.
Der Wald war in dieser Region immer die Quelle des Lebens, in der urzeitlichen Religion der Esten war er ein heiliger Ort. Unsere Urahnen verehrten die Baumgeister.
Ich glaube, deshalb haben die Esten immer noch eine starke Verbindung zur Natur. Wenn immer möglich, bewegen sie sich in der Natur. Viele Aktivitäten mit der Familie finden draußen statt. Das gibt uns Energie und schafft eine Verbindung zu unseren Wurzeln.
Inwieweit hilft Ihnen dieses Image bei Ihrer täglichen Arbeit?
Ein positives Image macht es leichter, sowohl Aufmerksamkeit als auch Talente für Estland zu gewinnen. Die Leute sind heutzutage von den altbackenen Lösungsansätzen und Ländern gelangweilt. Also bieten wir eine einzigartige Studienlandschaft an, in der E-Services im großen Stil zur Verfügung stehen, die Start-Up-Szene aktiv ist, und wo die Natur gesund, das Umfeld freundlich und sicher ist. Das wird von Studenten und Einwanderern sehr geschätzt.
Natürlich gibt es Länder, in denen Estland nicht sonderlich bekannt ist. Dort können wir unser Image von der Pike auf aufbauen. Das ist nicht immer einfach und manchmal eine Herausforderung. Aber wir erfahren viel Unterstützung im Ausland. Ein beachtlicher Teil der ausländischen Studenten gibt an, dass sie aufgrund einer persönlichen Empfehlung zum Studium nach Estland gekommen seien.
Wie viele ausländische Studierende gibt es derzeit in Estland? Und wie viele davon kommen aus dem deutschsprachigen Raum?
Im Studienjahr 2017/2018 hatten wir über 6.000 internationale Studenten (inklusive Austauschstudenten und solchen, die zum Kurzlehrgang kommen). 4.395 von ihnen studieren bis zum Abschluss, sei es Bachelor, Master oder Doktorgrad.
Wir bieten Studienprogramme an, in denen ausschließlich in englischer Sprache gelehrt wird. Aus dem deutschsprachigen Raum befinden sich 70 Studenten hier, die ihren Abschluss machen. Hinzu kommen Erasmus+ und andere Austauschstudenten.
Welche administrativen Hürden muss man nehmen, um an einer estnischen Hochschule zugelassen zu werden? Wie viel Vorlaufzeit muss man einrechnen?
Die meisten Institutionen in Estland, die einen Abschluss mit akademischem Grad anbieten, sind öffentliche Einrichtungen, die ein Mal im Jahr Studenten zulassen. Der Bewerbungszeitraum beginnt in der Regel im Januar, je nach Herkunftsland, angestrebtem Abschluss, sowie Fach der Studierenden, sind die Bewerbungsschlüsse unterschiedlich. EU-Bürger haben für gewöhnlich mehr Zeit, sich zu bewerben, da sie keine Visums- und Aufenthaltstitel beantragen müssen.
Alle unsere Lehreinrichtungen benutzen dieselbe Online-Plattform estonia.dreamapply.com zur Bewerbung und Zulassung. Studenten können sich gleichzeitig für verschiedene Programme und Institutionen bewerben. Für private Einrichtungen kann man sich oft zwei Mal im Jahr bewerben.
Ich empfehle, bereits im Dezember oder Januar den Kontakt zu den Universitäten zu suchen und die Online-Bewerbung anzustoßen. So hat man Zeit, die nötigen Dokumente beizubringen, sowie diese, wenn nötig, beglaubigen zu lassen. Beginne mit deinem Motivationsschreiben oder Portfolio.
Das verschafft einem auch mehr Zeit, in der man sich mit seiner angestrebten Universität austauschen und alles Nötige vorbereiten kann. Ich würde für das Bewerbungsprozedere 2 Monate einkalkulieren (Januar bis Februar). Die Antworten kommen in der Regel im Juni. Das gibt einem genügend Zeit, um sich um die Wohnung und andere Dinge zu kümmern, die für ein Studium in Estland benötigt werden.
Was sind – unabhängig von den oben genannten Attributen – die wesentlichen Vorteile, wenn man sich als Ausländer für ein Studium in Estland entscheidet?
Es gibt so viele davon, um nur einige zu nennen:
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Qualitativ hochwertige Ausbildung mit überschaubaren Kosten
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Sicheres Lebensumfeld
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Großartige Studenten/Lehrer-Ratio in den Seminarräumen
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Neue Infrastruktur und High-Tech-Labore
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wenig Bürokratie
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Stipendien
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Möglichkeiten der Auslandssemester
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Arbeit und Nebenerwerb neben dem Studium sind ohne irgendwelche Beschränkungen möglich
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Lebendige Start-Up-Szene mit technisch orientierter Gesellschaft
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Großartige Kultur und Studentenleben
Können Sie grob sagen, mit welchen Kosten ein Studierender aus der EU für ein Auslandssemester in Estland zu rechnen hat?
Grundsätzlich sieht das Feedback von internationalen Studenten, die schon einige Zeit hier verbacht haben, so aus, dass die Lebensbedingungen denen im Westen Europas gleichen. Die Lebenshaltungskosten in Estland hängen stark davon ab, welche Unterbringung, Lebensstil und Ausgabeverhalten der Student wählt. Aber man kann es sich leisten.
Monatliche Lebenshaltungskosten belaufen sich auf 300-600 Euro, abhängig davon, wo ein Student wohnt, ob im Wohnheim oder Mietwohnung, oder ob er selbst kocht oder lieber zum Essen ausgeht.
Es gibt viele Möglichkeiten in Estland, Budget einzusparen, in den meisten Städten ist der öffentliche Nahverkehr für Studenten kostenlos. Normalerweise müssen Studenten auch keine Lehrbücher kaufen, da die meisten Texte online erhältlich sind oder in Bibliotheken ausgeliehen werden können.
Gibt es institutionelle Starthilfen, beispielsweise bei der Wohnungssuche?
Wir haben keine Einrichtungen, die eigens dafür geschaffen worden sind. Jedoch sind alle Lehranstalten, die internationale Lernprogramme anbieten, darin erfahren, die Studenten diesbezüglich zu beraten und ihnen zu helfen. Internationale Büros sind für Studenten immer offen – man sollte nicht zögern, mit seinen Fragen auf sie zuzugehen. Wenn es um Wohnraum geht, so haben die meisten unserer Einrichtungen Studentenwohnheime oder kooperieren mit Maklerbüros, sie unterstützen die Studenten so viel wie möglich.
Welche Studiengänge sind bei Studierenden aus dem Ausland besonders angesagt? Gibt es Beschränkungen?
Es gibt jede Menge von Studiengängen für ausländische Studenten, ihre Beliebtheit hängt manchmal von dem Herkunftsland der Studierenden ab. Zum Beispiel haben wir sehr viele Studenten aus Finnland bei uns, die einen Bachelorabschluss anstreben. Bei den Masterstudiengängen kommen mehr Studenten von außerhalb der EU. Meist kommen sie für ein spezielles Lernprogramm oder sogar, um bei einem bestimmten Professor zu studieren.
Beim Zugang zur höheren Bildung gibt es in Estland einige generelle Anforderungen und einige spezielle, die von der Lehranstalt selbst aufgestellt werden. Die generellen Anforderungen sind für alle Hochschul-Institutionen gleichermaßen bindend. Es gibt keine Immatrikulationsanforderungen für Austauschstudenten, außer der, dass eine Austauschvereinbarung zwischen den Partner-Universitäten besteht.
Um Zugang zur höheren Bildung in Estland zu erlangen, muss der Bewerber eine Zugangsberechtigung für die Uni in seinem Land erworben haben. Alle Bewerber müssen außerdem ein Zertifikat über ihre Englischkenntnisse vorlegen. Alle international anerkannten Sprachprüfungen (z.B. ELTS, TOEFL) sind zulässig. Manche Universitäten führen auch eigene Sprachprüfungen durch. Bei bestimmten Voraussetzungen wird auch auf eine Sprachprüfung oder den Nachweis einer solchen verzichtet.
Es gibt keinerlei Altersbeschränkungen, wir glauben an das lebenslange Lernen in Estland. (lacht)
Die Konkurrenz um den Fachkräftenachwuchs ist europaweit groß. Wie positioniert sich Estland hierbei? Ist es erklärtes Ziel, möglichst viele ausländische Absolventen im Land zu halten?
Auch Estland hat einen hohen Bedarf an jungen Talenten, die Einwohnerzahl des Landes ist gering, und der Arbeitsmarkt benötigt Fachkräfte. Eines der Schlüsselziele von Study Estonia ist es, zu ermöglichen, dass mindestens 30 Prozent der Absolventen mit Master oder Doktor-Abschluss zumindest für einige Zeit in Estland arbeiten. Deshalb zielt ein Großteil unserer Bemühungen darauf, die richtigen Studenten anzusprechen.
Bereits seit einigen Jahren bietet der Staat ein kostenloses Willkommensprogramm für neue Siedler an. Dazu gehören Sprach-, Arbeits-, Studier- und Forschungskurse.
Außerdem gibt es ein Gesetz, wonach es Absolventen gestattet ist, bis zu 9 Monaten nach dem Abschluss im Land zu bleiben, um Arbeit zu finden. Zusätzlich gibt es eine eigene Initiative mit dem Namen Work in Estonia, die sich damit befasst, qualifizierte Arbeitskräfte für Estland zu gewinnen. Wir arbeiten mit dieser Initiative zusammen und stellen sicher, dass wir unseren internationalen Absolventen echte Karrieremöglichkeiten eröffnen.
Es ist ist in Estland nicht üblich, dass die Universität Stellen vermittelt, in diesem Sinne schalten wir uns als unabhängige Stiftung ein und engagieren uns genau in diesem Bereich.
Während Deutschland für seine Rückständigkeit in der Digitalisierung Hohn und Spott erntet, geht Estland innovativ und mutig voran. Was haben ausländische Studenten in Estland von der Digitalisierung, geben Sie uns bitte ein oder zwei Beispiele.
Ausländische Studenten profitieren von den Vorzügen der digitalisierten Gesellschaft in etwa dem gleichen Maße wie die Einheimischen. Zum Beispiel können sie Dokumente digital unterzeichnen, sogar von unterwegs mit ihrem Handy. Ein anderes Beispiel ist, dass EU-Bürger, die in Estland gemeldet sind und einen gültigen estnischen Ausweis besitzen, online an Lokalwahlen teilnehmen können.
Zum Abschluss hätten wir gerne Ihre ganz persönlichen Insider-Tipps: Mal angenommen, ein Studierender aus Deutschland ist ein ganzes Jahr in Estland. Was muss er/sie Ihrer Meinung nach unbedingt gesehen und unternommen haben, bevor es zurück geht? Sommer wie Winter, Theater wie Kneipe – ganz egal.
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Im Winter sollte man einmal mit seinem Auto über die 25 km lange Eisstraße auf die Insel Hiiumaa fahren. Das ist Europas längste Autotrasse aus Eis.
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Den besten Kaffee gibt es im Gourmet Coffee Kadriorg (beliebt sowohl bei Touristen wie bei einheimischen Politikern und Start-Up-CEOs).
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Man sollte im August die jährlichen Feierlichkeiten des Tag des Königreiches besuchen (Seto Kuningriigi päiv). Das lokale Fest, das immer in einem anderen größeren Dorf der Setukesen im Süden Estlands stattfindet. Die Setukesen oder Seto sind eine indigene Bevölkerungsgruppe deren Land (Setumaa, A. d. Red.) sich vom Südosten Estlands bis zum Westen Russlands um die Stadt Petschur erstreckt. Weltweit gibt es etwa 15.000 Seto. Es ist eine einmalige Chance, die Sprache der Seto, ihre Tracht, Handwerk und Küche zu erleben. Ihr spezieller Gesang, Leelo genannt, gehört zur Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit der UNESCO.
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Die Speakeasy-Bars, also Bars ohne Eingangsschild, mit hervorragenden Cocktails – Whisper Sister und Parrot (in Tallinn, Anm. d. R.).
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Wenn man einen Co-working-Platz sucht, kommt man an LIFT99 kaum vorbei. Im Kreativen- und Hipster-Viertel der Hauptstadt, Telliskivi, gelegen. Dort kann man aus direkter Nähe erleben wie neue “Skypes” und “Transferwises” entstehen.
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Das Intsikurmu sollte man sehen – ein Indie-Musikfestival versteckt im Stadtwald von Põlva. Das Intsikurmu strebt nach Hochklassigkeit in allem, was auf dem Festivalgelände passiert: Licht- und Video-Installationen, Kunstwerke, Cefés, Ruhezonen für die Besinnung, und, natürlich, Musik, die das Herzstück des Festivals ist.
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Gewinne einen Esten zum Freund, der eine Sauna und ein Häuschen auf dem Land hat! Die Sauna-Erfahrung mit einem Einheimischen ist etwas völlig anderes als in die Sauna des Fitnessstudios zu gehen. Für die Esten ist es ein Ritual!
Wir bedanken uns für das Gerspräch.
INFOS zu Study Estonia E-Mail-Kontakt: [email protected] |
ap