Reiseziele in Estland – Tartu wird Kulturhauptstadt Europas 2024
Tartu – das mondäne akademische Zentrum Estlands
Tartu ist mit knapp 100.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Estlands. Sie liegt im ländlich geprägten Südosten des Landes und wird von Kennern gerne als das geistige Zentrum Estlands bezeichnet. Ein Titel, der passender nicht sein könnte.
Der Grund hierfür ist denkbar einfach: Tartu wird als Hochschulstandort schon seit Jahrhunderten weit über die Grenzen Estlands geschätzt. Die klassizistischen Lehrgebäude der Altstadt verkörpern traditionell den akademischen Geist der Stadt und gelten zu Recht als überregionale Wahrzeichen einer erfolgreichen Lehr- und Forschungsgeschichte.
Doch auch sonst hat die am Fluss Embach (Emajõgi) gelegene Stadt ihren Besuchern viel zu bieten. Neben modernen Ladenpassagen sorgen in den letzten Jahren immer mehr Kneipen, Bistros und teils ausgezeichnete Restaurants für lebhafte, jedoch keineswegs unentspannte Großstadt-Atmosphäre.
Viel Kultur und schöne Architektur
Daneben kommen in Tartu vor allem kulturell interessierte Gäste auf ihre Kosten. Es gibt eine Reihe hochkarätiger Schauspielhäuser und mehr als 20 allesamt sehenswerte Museen (Muuseum). Aus architektonischer Perspektive begegnen sich in Tartu moderner und traditioneller Zeitgeist vorzugsweise in klassizistischem Gewand.
Ein weiterer, vor allem winterlicher Grund für viele Besucher ist die Nähe Tartus zur estnischen Skilanglauf-Hochburg Otepää, in der Jahr für Jahr internationale Wettkämpfe und Weltcup-Rennen stattfinden. Da viele Hotels in Otepää gerade in den wintersportlichen Hochwochen des Jahres (vor allem Januar und Februar) teuer und zudem überlaufen sind, weichen nicht wenige Besucher in das lediglich 35 Kilometer entfernte Tartu aus.
Die Altstadt in Tartu
Rund um den historischen Rathausplatz laden in Tartu hübsche Straßencafes und Restaurants zu einem netten Nachmittag in Sichtweite des Flusses Emajõgi ein. An schönen Tagen säumen Einheimische und Besucher gleichermaßen die langgezogene, auf ganzer Fläche mit Kopfstein gepflasterte Freifläche im Zentrum der Universitätsstadt. Die Atmosphäre ist angenehm, der Tourismus keineswegs überbordend.
Vor allem abends entpuppt sich der Stadtkern auch bei den zahlreichen Studierenden der bereits 1632 gegründeten Universität als beliebter Treffpunkt für tiefsinnige Gespräche und (natürlich) das ein oder andere alkoholische Getränk. Kein Zweifel: Tartu ist fortschrittlich, großstädtisch und modern. Und dennoch befindet sich die Stadt in einigen Bereichen (erfreulicherweise) in einer Phase der historischen Rückbesinnung.
Beispiel Architektur: Im gesamten Stadtbereich haben sich die typischen Schnellbau-Elemente sozialistischer Prägung in den vergangenen Jahren sukzessive ausgedünnt. Vielerorts präsentiert sich der historische Stadtkern nun bereits wieder als das, was er ursprünglich einmal war – als ein überregional geschätztes Kleinod des Klassizismus.
Historisches Rathaus, belebte Fußgängerzone
Sehr gelungen ist auch das historische Rathaus. Es gehört zu den bedeutendsten frühklassizistischen Bauwerken in Estland, errichtet 1786 nach den Plänen des Rostocker Architekten Johann H. B. Walther. Ein Brunnen und die alte Apotheke runden das direkte Umfeld mit einem weiteren Schuss „Vergangenheit“ ab. Entlang der Fußgängerzone haben sich darüber hinaus eine Menge Shops, Restaurants, Kneipen und Antiquariate etabliert.
Im Sommer 2005 weihte der Ex-Bundespräsident Horst Köhler die frisch restaurierte Jani-Kirche ein. Das zu Ehren des Hl. Johannes (Jani) errichtete Gotteshaus war im Verlauf des 2. Weltkriegs fast völlig zerstört worden.
Der Domhügel über der Altstadt
In unmittelbarer Nähe des Rathauses beginnt über die Schloss-Straße (Lossi) der Aufstieg zum Domhügel (Toomemägi), der geschichtsträchtigen Erhebung im Herzen der Stadt. Aufgrund seiner strategischen Lage wurde der Hügel jahrhundertelang fast ausschließlich militärisch genutzt. Unter akademischer Federführung erfolgte im Laufe der Zeit jedoch eine erfreuliche „Zweckentfremdung“ des sehenswerten Areals.
Heute präsentiert sich die Erhebung dank gezielter Aufforstungen als eine innerstädtische Oase der Ruhe und Naturverbundenheit. Ehemals militärisch genutzte Gebäude haben nun in erster Linie zivilen Charakter, gehören zur Universität oder fungieren schlicht und ergreifend als Sehenswürdigkeit.
Durch die recht steil ansteigende Schlossstraße wird der Fuß des Domhügels in nordöstlicher Richtung in zwei Hälften geteilt. Hier verbindet die einem Stadttor ähnelnde Engelsbrücke Ost und West der Erhebung miteinander. Längere Fußmärsche bzw. Umwege werden somit vermieden. Alles ist jederzeit in Reichweite.
Woher hat die Engelsbrücke ihren Namen?
Die heutige Brücke wurde zwischen 1814 und 1816 erbaut und weist in der Mitte ein Porträtrelief auf, das an den ersten Rektor der neu gegründeten Universität erinnert: Georg Friedrich Parrot (1767–1852). Er war von 1802 bis 1813 Rektor. Der Name der Brücke, auf Estnisch Inglisild, ist höchstwahrscheinlich eine Verkürzung einer früheren Bezeichnung der Brücke als „Englische Brücke“, estnisch Inglise sild.
Die Domkirche aus dem 13. Jahrhundert
Den Westteil dominiert eindeutig die gewaltige Ruine der Domkirche (Toomkirik), die im 13. Jahrhundert erbaut wurde und im Zuge des Livländischen Krieges (1558-1583) nach und nach zerfiel. Der zu weiten Teilen erhaltene Chorraum des Gotteshauses dient heute als universitätsgeschichtliches Museum, wo seit Anfang der 1980er Jahre umfassende historische Einblicke in die akademische Lehre Tartus gewährt werden.
Der Rest der Ruine wurde baulich abgesichert sowie an einigen Stellen restauriert. Interessierte Besucher können den Dom und seine Aussichtsebene besteigen und erhalten zur Belohnung einen schönen Blick auf weite Teile der darunter gelegenen Parkanlagen.
Im Osten des Areals sind das Alte Anatomikum (Vana anatoomikum) und das altehrwürdige Observatorium (Tähetorn) zu finden, welches im 19. Jahrhundert die modernste Sternwarte in ganz Europa war. In der Summe kommen damit die religiöse als auch die akademische Tradition der Stadt mit nahezu jedem Stein des Domhügels eindrucksvoll zur Geltung – umgeben vom Idyll eines prächtigen Parks.
Tartu – die Stadtgeschichte im Überblick
Die erste urkundliche Erwähnung der estnischen Siedlung Tarpatu reicht auf das Jahr 1030 zurück, als Großfürst Jaroslaw von Kiew die bestehenden Holzpalisaden zerstören und unter dem Namen Jurjev zu einer steinernen Festung ausbauen ließ.
1215 wurde die Befestigung vom Schwertbrüderorden erobert und in Dorpat – den deutschen Namen Tartus – umbenannt. Unwesentlich später erfolgte der Aufschwung: 1224 wurde die Stadt Bischofssitz, 1280 fand sie als wichtiges befestigtes Bindeglied zwischen Reval und Nordwest-Russland Anschluss an die Hanse.
Durch den Livländischen Krieg (1558-1583) zunächst in russischen Besitz übergegangen, waren es gegen Ende der Auseinandersetzungen litauisch-polnische Machthaber, die in Dorpat das Sagen hatten. Das für estnische Verhältnisse geradezu normale Wechselspielchen um Macht und Vorherrschaft hatte hiermit begonnen.
Gründung der Akademie unter schwedischer Herrschaft
1625 wurde Dorpat zwischenzeitlich von schwedischen Truppen erobert, woraufhin König Gustav Adolf II. im Jahr 1632 die altehrwürdige Akademie gründen ließ. Für die Stadt war es der Auftakt in eine weitere kurze Blütezeit. Nach blutigen Kämpfen ging Dorpat 1721 schließlich erneut in russischen Besitz über, woran sich bis zur estnischen Unabhängigkeitserklärung im Jahre 1918 nichts änderte. In diesem Zeitraum etablierte sich Tartu als offizieller Stadtname.
Ab 1944 folgte die Eingliederung Estlands in das Sowjetreich, woraufhin sich die Stadt im Verlauf des Kalten Krieges zum wichtigsten Luftwaffenstützpunkt im gesamten Baltikum entwickelte. 1990 folgte mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion schließlich auch im ländlich geprägten Südosten Estlands der Weg in die lang ersehnte politische Unabhängigkeit. 2016 wurde Tartu der Ehrentitel „Reformationsstadt Europas“ verliehen.
Eine sehenswerte Stadt, die Estlandreisende unbedingt besuchen sollten, am besten mit mehreren Übernachtungen. Von Tartu aus lässt sich der Nordosten mit dem Peipussee und der Zwiebelstraße erkunden, sowie Setumaa im Südosten Estlands, wo das Volk der Setu lebt, eine ethnische Minderheit im Grenzland zwischen Russland und Estland. Die Setu oder Setukesen gehören zum Volksstamm der Esten, verfügen jedoch über eine eigene finno-ugrische Sprache und eigenständige Traditionen und Bräuche, die sich von denen der Mehrheitsesten teils deutlich unterscheiden.
Tartu wird Kulturhauptstadt Europas 2024
Ein internationales Expertengremium hat am Mittwoch beschlossen, die Stadt Tartu zur Kulturhauptstadt Europas 2024 zu ernennen.
Das Rennen um den Titel der Kulturhauptstadt Europas begann im November 2017. Neben Tartu und Narva hatte Kuressaare, die Hauptstadt der Insel Saaremaa, ihre Kandidatur bis Oktober 2018 eingereicht. Narva und Tartu wurden in die engere Wahl gezogen und mit der Einreichung der endgültigen Bewerbung in diesem Sommer beauftragt.
Insgesamt drei Städte werden den Titel im Jahr 2024 tragen – eine aus Österreich, eine aus Estland und eine aus einem Mitgliedsstaat der Europäischen Freihandelszone (Island, Liechtenstein, Norwegen oder der Schweiz) oder einem EU-Beitrittskandidaten (Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Serbien oder der Türkei) oder ein potenzielles Bewerberland (Bosnien und Herzegowina oder Kosovo).
Tartu machte das Rennen in Estland, die österreichische Kulturhauptstadt wird am 12. November und der dritte Gewinner am 25. September bekannt gegeben.
Der Titel der Kulturhauptstadt Europas wird seit 1985 verliehen und hat sich zu einem der einflussreichsten Kulturprojekte entwickelt, das der siegreichen Stadt zusätzliche Mittel einräumt, langfristige Ziele fördert und eine wachsende Zahl von Touristen anzieht. Mehr dazu unter www.visittartu.com/de (Tourismusportal der Stadt Tartu auf Deutsch).
Weiterführende Tipps für einen Besuch in Tartu:
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Das Estnische Nationalmuseum in Tartu: Das Museum beschäftigt sich intensiv und anschaulich mit der estnischen Identität. Die teils virtuellen Ausstellungen vermitteln ihren Besuchern einen prima Einblick in die unterschiedlichen geschichtlichen Epochen des Landes und das damit verbundene Leben der Bevölkerung. Eine der Ausstellungen, die „Echoes of Ural“, präsentiert zum Beispiel – nicht ohne Stolz – die traditionelle finno-ugrische Alltagskultur. Weitere Infos gibt es auf der Homepage.
Webseite: www.erm.ee/en
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Das Spielzeugmuseum in Tartu: Das Museum ist geradezu herzallerliebst und hat nun wahrlich nicht den Anspruch, beim Thema Spielzeug immer auf der Höhe der Zeit zu sein. Vielmehr werden Erwachsene und Kinder in eine Spielwelt geführt, die zu weiten Teilen einmal gewesen ist. Sonst hätte sie freilich kaum musealen Charakter. Zu sehen gibt es allerhand Puppen und Accessoires, mit denen früher in verschiedenen Ländern gespielt wurde. Klassisch finno-ugrisches Spielzeug ist ebenfalls vertreten. Dazu gibt es für Aufführungen einen Theatersaal und ein spannendes Kinderatelier.
Webseite: www.mm.ee/en
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Schloss Alatskivi: Das strahlend weiße Schloss ist eines der schönsten auf estnischem Boden und liegt einige Kilometer entfernt von Tartu an der Ostgrenze Estlands. Viele Gäste nutzen für einen Besuch aber Tartu als „Homebase“, das bietet sich an. Die Ausstellung zeigt, wie (gut) der estnische Adel früher so gelebt hat – und was das für ihre Bediensteten bedeutete. Hierzu gibt es unzählige Geschichten, an denen Sie die wirklich spannenden Führungen durch Alatskivi gerne teilhaben lassen. Das Schloss ist über drei Etagen zu besichtigen, einplanen sollte man dafür mindestens zwei Stunden. Und Souvenirs gibt es natürlich auch.
Webseite: www.alatskiviloss.ee/en
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