Teil 2 – Kleine Geschichte Lettlands: Wie Riga evangelisch wurde
Geschlagene Mönche, zerschlagene Altäre – Reformation in Riga geht weiter
Riga im Jahr 1522. Seit über dreihundert Jahren ist sie die wichtigste Stadt Livlands. Und am 22. Juni Schauplatz einer aufsehenerregenden Diskussion in der Petrikirche. Die aber – anders als bis heute oft dargestellt – keineswegs die „Einführung der Reformation“ in Riga war, sondern viel mehr ihr Auftakt.
Sie hatte gezeigt, wie stark die evangelische Bewegung in der Stadt – und offenbar gerade auch im Stadtrat – ist. Der Prediger Knopken kann die verbotenen neuen Lehren offen predigen, ohne dass ihm etwas geschieht. Und wenige Wochen später kommt mit Sylvester Tegetmeyer ein weiterer evangelischer Prediger in die Stadt, der gegen den älteren, bedächtigen Knopken charismatischer und geradezu radikal wirkt.
Im Herbst 1522 setzt der Stadtrat Andreas Knopken und Sylvester Tegetmeyer als Pfarrherren an St. Petri bzw. St. Jakobi ein. Nicht, dass der Rat das gedurft hätte: Die Pfarrstellen an den beiden Stadtkirchen gehörten seit jeher Pfründen des Rigaer Erzstifts, die Einsetzung von Pfarrherren durch den Stadtrat somit für jedermann offensichtlich illegal.
Doch ein Aufstand in der Stadt bleibt aus. Für diejenigen, die von der evangelischen Lehre gepackt und überzeugt worden waren, drehte sich ihr ganzes Welt- und Wertesystem um 180 Grad. Von der alten, päpstlichen Heilslehre, an die man sein ganzes Leben geglaubt hatte, von der man sich und sein Seelenheil abhängig gemacht hatte, auf die man sein Leben ausgerichtet hatte, von dieser Lehre der Rechtfertigung durch fromme Taten und Ablass, fühlte man sich belogen, betrogen und verraten.
Eine Enttäuschung, die bei vielen zu etwas führte, was wir heute „Radikalisierung“ nennen würden. Und dessen Folgen besonders die abbekamen, denen man bislang immer so eng verbunden war, die sich aber weigerten, sich der neuen Lehre anzuschließen: Die Bettelmönche der Franziskaner und Dominikaner.
Der Lektor des Franziskanerklosters, Antonius Bomhower beschreibt in einem Brief, wie Bürger mit Gewalt in sein Kloster eindrangen und versuchten, die Mönche mit Angeboten und Gewalt zum Austritt zu bewegen:
„Ock de borgher unde koplude der stadt Ryghe hebben myt sodanem wylmode und konheyt gehandelt wedder unse broder, dat se ock syck hebben vermethen tho gande in dat kloster in der stadt des grauwen ordens unde hebben vorloff gegeven, den orden unde dat kleyde tho verwerpen, dartho etliken, de dat sulveste annehmen wolden, hebben se gelavet gelt unde kledere. Darbaven eynen olden broder des ordens, de dar prediker was unde plach wedder Luttersch lere tho prediken und de bullen des pawestes Leonis plach afthokundigen, densulvigen myt lavynghe geldes unde kledere hebben se ehne vorforet unde hebben ehne myt macht uth deme kloster gehalet ane fulbordt des gardians unde des gantzen conventes“.
Zorn in der Fastenzeit
Der aufgestaute Zorn entlädt sich dann in der Fastenzeit, die schon immer eine besonders unruhige Zeit gewesen war. Am 6. März 1524 stürmen die Bürger nicht nur das Franziskanerkloster, sondern plünderten es diesmal sogar! Einige Bücher aus der Klosterbibliothek sollten zur Keimzelle der Städtischen Bibliothek – heute akademische Bibliothek der Universität Lettlands – werden. Mit der Plünderung des Franziskanerkonvents war aber eine Grenze überschritten, ein Deich der Zurückhaltung gegenüber der alten Kirche gebrochen.
Nur wenige Tage später, am 10. März eskaliert der Beschluss der Schwarzhäupter – der Vereinigung der Kaufgesellen, die einen eigenen Altar in der Petrikirche hatten – „dath me[n] de taffel vn[de] alle[n]t weß suß tho der vycire[n] hörede affneme[n] sulde, vn[de] vp dath nye hwß samptliken bringe[n]“, in den ersten Bildersturm.
Das Vikarienbuch der Schwarzhäupter berichtet: Es „wart eyn rumor, dat de gantse gemene hupe der junghen broder myt enen dullen, unsynnygen koppe unde myt gantser unstymycheyt in de kerke lepen unde tho breken unde vorstorden alle, dat to der swartenhoveden altare horde, alse de grote taffel myt den clenen taffelen, myssal, corporal, kelke, patenen, luchter unde allent, war dar wasz, ock so, dat de vyctarye myt aller tobehorynge unde myssen gansz vorstoret wart.“
Am folgenden Tag werden St. Petri und St. Jakobi von einem ersten allgemeinen Bildersturm heimgesucht, der in der Folgewoche fortgesetzt wurde. Das Bruderbuch der Bierträgerbruderschaft berichtet: „also se breken de beyden kerken alyo sunte perters vnnd jacobi vnnd alle de bylde cruce marien vnnd wasz dar wasz. Item de reliquien sanctorum in den Altaren bemuret vthbroken sze vnnt tho slogen tho worpen wasz in der kerken wast.“
Nicht nur gegen die eigenen Pfarrkirchen und das Minoritenkloster richtet sich im Frühjahr 1524 die Wut: Auch der Dom und die Domfreiheit werden Schauplatz von Tumulten. Als die Domherren am 26. März ihre Karfreitagsprozession abhalten, fühlen sich die evangelischen Rigenser provoziert. Am Folgetag brechen sie unter Führung Sylvester Tegetmeyers auch in den Dom ein. Für den Stadtrat ist die Lage klar: Solange es noch altgläubige Mönche in der Stadt gibt, werden sich Ruhe und Ordnung kaum wiederherstellen lassen.
Das Frauenkloster bleibt unangetastet
Am 2. April verfügt er daher die Schließung der Klöster und vertreibt die verbliebenen Franziskaner- und Dominikanermönche aus der Stadt. (Interessanterweise passiert dem Zisterzienserinnenkloster gegenüber der Jakobikirche nichts. Vermutlich, weil dort vor allem Töchter des Landadels lebten, mit deren Vätern es sich niemand verscherzen wollte.)
Um die neuen Pfarrer zu bezahlen – denn das Domkapitel zahlt natürlich nicht mehr – beschlagnahmt der Stadtrat den Besitz der aufgelösten Klöster, der nicht nur die Klostergebäude selbst, sondern auch viele andere Häuser in der Stadt umfasste. Das Vermögen fließt in eine neue Kasse, genannt der „gemeine Kasten“, in den auch die Gilden und Bruderschaften das Geld einzahlen, von dem sie vor der Reformation ihre Seelenmessen und Altarausstattungen bezahlt hatten. Mit den neuen, evangelischen Predigern und diesem „gemeinen Kasten“, der unter städtischer Verwaltung steht, hat Riga nun eine eigene, evangelische Kirchenorganisation. Die Reformation in Riga ist also im Herbst 1524 vorbei.
Und was geschah am 21. September 1525, dem anderen Datum auf der Gedenktafel, die seit Frühjahr 2017 in der Petrikirche hängt? Nahezu seit Gründung der Stadt Riga hatten sich Erzbischof und Ordensmeister nicht nur um die grundsätzliche Vorherrschaft in Livland, sondern auch ganz konkret um die Stadtherrschaft über Riga gestritten. Seit dem Kirchholmer Vertrag 1452 hatten Erzbischof und Ordensmeister die Stadtherrschaft geteilt. Im Sommer 1525 aber wurde der Erzbischof Blankenfeld verdächtigt, mit den Russen geheime Verhandlungen zu Ungunsten Livlands zu führen und verhaftet.
Bürgermeister und Rat Rigas erkannten ihre Chance und boten dem greisen Ordensmeister Plettenberg die ungeteilte Stadtherrschaft an. Unter der Voraussetzung, dass er ihnen unter anderem ihr neues, evangelisches Kirchenwesen nicht anrühre. Was also im September 1525 geschah, war keine Entscheidung für die Reformation, sondern nur die Absicherung, dass die längst erfolgte Reformation in Riga vom neuen Stadtherren nicht mit Gewalt – oder anderweitig – zurückgedreht werden sollte.
Eine kleine Anmerkung zu Begrifflichkeiten: Immer, wenn irgendwo von der „Einführung der Reformation“ (am besten mit einem konkreten Datum) gesprochen wird, stellen sich dem Autor die Nackenhaare auf. Was für eine absurde Vorstellung steht dahinter? „Reformation“ als vorgefertigter 10-Punkte-Plan, über dessen Abwicklung beschlossen wurde? Luther hat mit seinen 95 Thesen eine Grundlage für eine akademische Diskussion vorgelegt, keinen 95-Punkte-Plan zur Schaffung von evangelischen Landeskirchen. Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, sollte versuchen, den Menschen jener Jahre gerecht zu werden. Das heißt auch: Beachten, dass die Menschen des Jahres 1522 nicht die geringste Ahnung hatten, was 1523-2017 passieren wird. Die Menschen damals waren – genauso wie wir es heute sind – damit konfrontiert, höchstens schätzen zu können, was die Zukunft bringt. Wenn dann aber etwas Unvorhergesehenes passiert, versucht man, die Folgen zu bewältigen. Und schafft dabei nur allzu oft Folgeprobleme, die dann wieder gelöst werden müssen.
Text von Dr. Martin Pabst
Über den Autor Dr. Martin Pabst studierte Geschichte und Theologie und wurde mit einer Arbeit zur Reformationsgeschichte Rigas promoviert. Er arbeitet als Wissenschaftlicher Leiter zweier Stiftungen sowie freiberuflich als Autor, Studienleiter und Vortragsredner. dr-martin-pabst.de // twitter.com/Dr_Martin_Pabst |