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Spannender Recherchebericht aus Litauen

Bange Tage: Was geschah, als Russland Tschernobyl besetzte?

Zwischen dem ukrainischen AKW Tschernobyl und der litauischen Hauptstadt Vilnius liegen weniger als 500 Kilometer Luftlinie. Das allein zeigt, wie besorgniserregend nah den Menschen im Süden des Baltikums einer der ersten großen Kriegsschauplätze nach Putins Einmarsch im Februar 2024 gewesen ist.

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Ortszeit 15.47 Uhr: Der Moment, an dem am Tag der Invasion der erste Panzer in die Sperrzone von Tschernobyl eindrang. (Foto: Screenshot)

Was Tschernobyl zu weit mehr als einem Punkt auf der Landkarte macht, ist der 26. April 1986. Jener Tag, an dem sich in Reaktorblock 4 die atomare Katastrophe ereignet hat. Ein Tag, der wie kein zweiter für all das Unheilvolle steht, das Menschen weltweit so wohl nur in dieser Technologie sehen.

Damit war es zu Beginn des Krieges an Putin, die von ihm so gern gespielte Karte der Angst aus dem hoch kontaminierten Sperrbezirk zu zücken, der das Atomkraftwerk seit dem GAU umgibt. Für ein Recherche-Team, dessen Bericht der litauische Rundfunk nun veröffentlicht hat, steht fest:

Putin wollte der Welt gleich zu Beginn des Krieges in der Ukraine zeigen, dass er zu allem bereit ist.
Doch was genau geschah eigentlich in den Wochen vom 24. Februar bis zum 31. März 2022, in denen das AKW von russischen Truppen besetzt war? Es folgt die Rekonstruktion eines Spiels mit dem Feuer.

Bereits am 10. Februar, also genau zwei Wochen vor der Invasion, begannen im quasi angrenzenden Weißrussland Militärmanöver, bei denen russische und belarussische Truppen offiziell die „Abwehr externer Aggressionen“ übten.

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Gefolgt von einer nicht enden wollenden Kolonne aus Panzern, gepanzerten Fahrzeugen, Truppentransportern und anderem Kriegsgerät. (Foto: Screenshot)

Da Putins Truppenaufmärsche rund um den östlichen Teil der Ukraine da schon bekannt waren, konnte der Spannungsbogen längst als gespannt bezeichnet werden. Und die Spannungen wuchsen weiter, als Berichte von einer Pontonbrücke im weißrussisch-ukrainischen Grenzland nahe Tschernobyl die Runde machten.

Wenige Stunden später, gegen 4.00 Uhr morgens, überquerten russische Truppen die Grenze

Eine Woche später riegelte die Ukraine den Zugang zur Sperrzone rund um das AKW ab und nannte als Grund ganz allgemein die Sicherheit der dortigen Einrichtungen. Tatsächlich aber war der Schritt getrieben von der immer konkreter werdenden Befürchtung, ein groß angelegter Angriff könne bevorstehen.

Am späten Abend des 23. Februar wurden die ukrainischen Grenzposten schließlich aus der Zone abgezogen. Wenige Stunden später, gegen 4.00 Uhr morgens, überquerten russische Truppen die Grenze und besetzten Tschernobyl bereits am Nachmittag.

An diesem 24. Februar befanden sich nicht nur Mitarbeiter des Kernkraftwerks im Sperrbezirk, sondern auch 169 Soldaten der ukrainischen Nationalgarde. Dazu medizinisches Personal und Feuerwehrleute.
Laut Schätzungen waren zum Zeitpunkt des russischen Überfalls mehr als 300 Menschen innerhalb der Zone.

Putins Truppen drangen von Belarus aus an zwei Stellen nach Tschernobyl vor. Zunächst in der Nähe des Dorfes Vilcha im Nordwesten, dann weiter nordöstlich im Bereich des Dorfes Kamaryn. Zuvor fuhren sie mit einer nicht enden wollenden Kolonne in die Sperrzone.


(20-minütiges Video vom Eindringen der russischen Kolonne in den Sperrbereich um Tschernobyl)

Gegen 16.00 Uhr Ortszeit erreichten die Russen das Hauptverwaltungsgebäude in Tschernobyl. Die ukrainische Nationalgarde sah sich angesichts der erdrückenden Übermacht der Gegner dazu gezwungen, die Waffen niederzulegen – ein Blutbad weniger in diesem furchtbaren Krieg.

Während der mehrwöchigen Besatzung verblieben einige ukrainische Einsatzkräfte im Kraftwerk, um die laufenden Sicherungsmaßnahmen aufrecht zu erhalten. Der Großteil des Personals konnte hingegen evakuiert werden.

Die russischen Truppen haben einen Gesamtschaden von 100 Millionen Euro hinterlassen

Nach der in Teilen stümperhaft und verlustreich verlaufenen Invasion im Norden der Ukraine verließen die russischen Besatzer schließlich am 31. März das Gelände des Kernkraftwerks. Leider nicht, ohne einen regelrechten Berg der Verwüstung zu hinterlassen.

Immerhin kam mit dem Abzug aber auch ein Hauch von Normalität zurück. Gut zu erkennen daran, dass am 2. April schon wieder die ukrainische Flagge am Kernkraftwerk wehte. Am 3. April vermeldete die Armee die Rückeroberung der Region.

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Die Rückkehr ukrainischer Soldaten am 3. April 2022. (Foto: Maxim Kamenev / Graty)

Unmittelbar nach dem Abzug der Russen begannen ukrainische Einsatzkräfte damit, die Sperrzone auf Schäden zu inspizieren. Dass sie fündig wurden, beweisen offizielle Schätzungen, wonach die russischen Truppen einen Gesamtschaden von etwa 100 Millionen Euro hinterlassen hatten.

Dazu zählen der Diebstahl von Geräten aus radiologischen Laboren, die Plünderung von Computern und Fahrzeugen sowie die Zerstörung von Infrastruktur und Bürogebäuden. Auch eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Nuklearkatastrophe musste dran glauben.

Vor allem aber sind sich die Rechercheure einig, dass die Besetzung von Tschernobyl nicht nur militärischen Zwecken diente, sondern auch und insbesondere als psychologischer Schlag gegen die Ukraine und den Westen geplant war.

Frei nach dem Motto: Wenn ich will, dann mache ich alles mit euch

Dass es wirkte, zeigten bereits die ersten Tage nach der Einnahme des AKW. Die Medien sprangen pflichtgemäß auf den Zug auf. Aus Polen etwa wurden panikhafte Hamsterkäufe von Jodtabletten berichtet. Die Angst vor einer neuen Katastrophe in Tschernobyl war allgegenwärtig (neben allen anderen Ängsten).

Mit der Einnahme des AKW zielte Putin darauf ab, realen Krieg (Ukraine) und hybride Kriegsführung (Westen) an einem Ort wie keinem anderen in Europa zu einer gewaltigen Drohkulisse zu verschmelzen. Frei nach dem Motto: Wenn ich will, dann mache ich alles mit euch.

Zu dumm nur für Putin, dass seine „Spezialoperation“ den psychologischen Ambitionen der Tschernobyl-Eroberung nur wenige Tage standhielt. Stattdessen ist der im Kreml erhoffte Blitz-Sieg über die gesamte Ukraine einem zähen und für beide Seiten äußerst blutigen Stellungskampf gewichen.

Dennoch kommen die Rechercheure laut LRT.lt auch mit Blick auf Tschernobyl zu dem Urteil, dass „Propaganda und psychologische Operationen schon seit Jahren zu den Strategien Russlands gehören, um westliche Gesellschaften zu destabilisieren.“

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Die russischen Truppen hinterließen einen Berg von Schäden. (Foto: Maxim Kamenev / Graty)

Und weiter: „Die Ereignisse in Tschernobyl sollten eine Warnung sein: Der Kreml zeigt, wie skrupellos er bereit ist, seine Ziele zu verfolgen. Die westlichen Staaten beginnen erst jetzt, auf diese Bedrohung zu reagieren.“

Schweden etwa hat Anfang 2024 eine Psychological Defence Agency (Myndigheten för psykologiskt försvar) gegründet, um die Gesellschaft widerstandsfähiger gegen Desinformation zu machen. Auch in Polen wurden vergleichbare Schritte eingeleitet. Die russische Eroberung von Tschernobyl wird ihren Anteil daran haben.

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