Vollständiger Schutz existiert nicht
Europa unter Beschuss? Könnte Europas Luftabwehr russischer Bedrohung standhalten?
Der Himmel über der EU ist trügerisch ruhig. Unlängst vermuten Militärexperten, dass dies der letzte Sommer Europas in Frieden sein könnte. Darum darf die Frage gestellt werden, ob die Städte der EU über ausreichend Luftabwehr verfügen, um einem mölglichen Angriff aus der Luft, wie er so häufig auf ukrainische Städte niedergeht, standzuhalten?
Die Realität hinter der Illusion vom Schutzschirm
„Wer glaubt, in einer Art magischer Blase zu leben, wird böse überrascht werden“, sagt Philip Breedlove, Ex-Oberbefehlshaber der NATO in Europa, gegenüber Radio Radio Free Europe / Radio Liberty, wie der litauische Sender LRT auf seiner Website berichtet.
Ein Blick in die Ukraine zeigt, was das bedeutet: täglich Raketenangriffe, Drohnen, explodierende Gleitbomben, Tote, zerstörte Infrastruktur.
Laut dem US-Thinktank CSIS hat Russland seit 2022 mehr als 25.000 solcher Angriffe geflogen – durchschnittlich über 24 Raketen und Drohnen pro Tag.
In Europa wächst deshalb der Druck. Im März haben 24 Staaten die „European Sky Shield Initiative“ (ESSI) offiziell gestartet – ein gemeinsames Aufrüstungsprojekt, bei dem Raketenabwehr ganz oben auf der Liste steht.
Systeme wie Patriot, Iris-T oder Arrow 3 sollen helfen, Europa sicherer zu machen. Doch bis das greift, vergeht Zeit. Und nicht alle EU-Staaten machen mit – Frankreich, Spanien und Italien halten sich zurück, unter anderem wegen der Abhängigkeit von US-Technologie.
Abwehr auf Abruf – reicht das?
Commodore Mike Dwan, Leiter der US-Raketenabwehr-Taskforce in Europa, erklärt, wie das derzeitige Schutzsystem aussieht: In Polen (Redzikowo), Rumänien (Deveselu) und mit Zerstörern vor der spanischen Küste ist das sogenannte Aegis-System im Einsatz. Es fängt Raketen schon in der oberen Atmosphäre ab – weit über 100 Kilometer über der Erde. In der Theorie klingt das beeindruckend. In der Praxis ist es ein Wettlauf mit der Zeit.
„Es ist ein Katz-und-Maus-Spiel“, sagt Dwan. Wie viele Raketen werden abgeschossen, wie viele kommen durch? Ein vollständiger Schutz existiert nicht – auch nicht mit mehreren Abwehrlinien. Selbst wenn Aegis versagt, soll ein Patriot-System den Rest erledigen.
Doch auch diese mehrschichtige Verteidigung hat ihre Grenzen. Die Systeme haben nur begrenzte Kapazitäten – in Redzikowo stehen drei Werfer mit je acht Raketen. Ein koordinierter Massenangriff könnte sie rasch überfordern.
Das schwächste Glied: Drohnen
Noch dramatischer ist die Lage bei der Drohnenabwehr. Russland setzt zunehmend auf Schwärme kleiner, billiger Angriffsgeräte. Breedlove sagt klar: „Unsere Verteidigung ist auf diese Art von Bedrohung nicht vorbereitet – weder in den USA, noch in Europa.“
Er spricht von einem Gegner „auf Steroiden“. Auch Ben Hodges, Ex-Kommandeur der US-Armee in Europa, sieht schwarz: „Es gibt keinen vollständigen Schutzschild. Wir müssen priorisieren, was wir schützen.“
Lücken, Netze, Wahrscheinlichkeiten
Im militärischen Jargon nennt sich das „Probability of Kill“ – die Wahrscheinlichkeit, ein Ziel erfolgreich abzuschießen. Laut Breedlove liegt sie dort, wo die Sensorabdeckung hoch ist, bei rund 95 Prozent.
In anderen Regionen sinkt sie auf 30 Prozent. Die NATO müsse ihr Netzwerk verdichten, sagt er – genauer werden wollte er dabei nicht. „Die Staaten wissen, wo sie stehen. Wir haben ihnen die Simulationen gezeigt.“
Ohne die USA? Ein riskantes Gedankenexperiment
Ein brisanter Punkt bleibt offen: Was passiert, wenn die USA sich zurückziehen? Frühwarnsysteme, Nachrichtendienste, die US-Luftwaffe – all das ist für die NATO derzeit unverzichtbar. Hodges sagt:
„Die größte Lücke wäre die Lufthoheit der USA.“ Zwar könnten neue Mitglieder wie Schweden und Finnland zur Lufthoheit beitragen – ein Ersatz für amerikanische Technik und Führung wären sie nicht.
Die Bedrohung durch Russland ist real, die Luftverteidigung Europas in Bewegung – aber noch lange nicht am Ziel. Die technischen Systeme werden besser, aber sie haben Kapazitätsgrenzen. Die politische Einigkeit ist fragil, und das Zeitfenster, um besser vorbereitet zu sein, schließt sich. Die Luft über Europa mag friedlich wirken. Aber wie lange noch?