„Braveheart“ Mancini hat geliefert
Schottland kichert genüsslich nach Englands Elfmeter-Fiasko – und atmet tief durch
Man mag es zunächst nicht glauben, aber auch für Schottland stand viel auf dem Spiel am gestrigen Abend, als England und Italien im Finale der Fußball-Europameisterschaft aufeinandertrafen.
Und zwar so viel, dass sich die schottische Zeitung The National bereits am Samstag zu einem Titelbild hat hinreißen lassen, das eigentlich alles sagt. Zu sehen darauf: Italiens Nationaltrainer Roberto Mancini als Schottlands Freiheitskämpfer und mittelalterlicher „England-Bezwinger“ William Wallace.
Wenn also Braveheart, Schottlands viel besungener Nationalheld, für gut 48 Stunden ein Italiener ist, dann muss die Lage ernst sein. Sehr ernst. Gut zu erkennen auch an der Wort-Garnitur der Bildmontage, die da lautete: „Rette uns, Roberto, du bist unsere letzte Hoffnung!“ Wow. Sarkasmus pur, so scheint es.
Das Schöne am Fußball ist ja, dass er je nach Konstellation dazu taugt, über Jahrzehnte (und in diesem Fall Jahrhunderte) gewachsene Rivalitäten aller Art auf knapp 90 oder auch mal 120 Minuten zu verdichten.
Und da das längst ausgeschiedene Schottland den Job nicht selbst erledigen konnte, mussten an seiner Stelle nun die Italiener ran, um den Three Lions den lang ersehnten Triumphmarsch zu versauen. Spezieller und auch komplizierter kann eine Interessenlage fast nicht sein.
Man muss heute wahrlich kein Prophet sein, um die These zu vertreten, dass das denkwürdige Finale von gestern mehr als nur einen Sieger hervorgebracht hat: das vollkommen zu Recht und verdient strahlende Italien – und das genüsslich in sich reingrinsende Schottland.
Doch auch wenn das gestern „nur“ Fußball war, für viele Beobachter des Spiels schwang da deutlich mehr mit. Diesen Eindruck konnte, nein, musste man gewinnen angesichts der Zerreißprobe namens Brexit, in der sich das Vereinigte Königreich seit ein paar Jahren befindet. Buchstäblich selbst gewählt.
Daher trieb (einen Gutteil) der Schotten am gestrigen Abend wahrscheinlich nicht weniger als die Sorge um, dass aus Sicht der Engländer bei einem Sieg im Finale auf einmal alles, aber wirklich alles einen Sinn ergeben hätte.
Namentlich das Brexit-Votum, der mitunter zweifelhafte Umgang der Zentralregierung mit Corona, Buhrufe und Schmähungen – und natürlich Londons klares Nein zur schottischen Unabhängigkeit.
Ob all die Begleitmusik einen Fußballer daran hindert, aus 11 Metern das Tor zu treffen, ist natürlich eine andere Geschichte. Geschehen ist es trotzdem. Italien hat gewonnen.
„Wir können es nicht ertragen, wenn sie weitere 55 Jahre damit angeben!“, stand da passenderweise noch in Klammern unter dem Titelbild des Artikels von The National – einer Zeitung, die offen zu dem steht, was sie anstrebt: Schottlands Unabhängigkeit.
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