Rentierzucht über Wolfsschutz
Schweden will Zahl der Wölfe nach „Verunsicherung“ mehr als halbieren
Nachdem kürzlich ein genetisch wertvoller Wolf nach Schweden eingewandert ist, was von Experten als Erfolg gefeiert wurde, kommt für Freunde der Wölfe eine erschütternde Nachricht aus dem skandinavischen Land: Schweden will seine Wolfspopulation mehr als halbieren.
Die schwedische Regierung hat den Beschluss gefasst, die Zahl der Wölfe im Land deutlich zu reduzieren, nachdem sie „erhebliche Probleme und Unsicherheit“ verursacht hätten, so die politische Meinung.
„Die Raubtierpolitik muss alle Menschen berücksichtigen, die in der Nähe der Wölfe leben und arbeiten. Schwedens Management der Wolfspopulation muss sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltig sein“, erklärte die schwedische Regierung gestern in einer Pressemitteilung.
Hinter dieser rational klingenden Formulierung stecke eine Reaktion auf eine irrationale Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung, meinen Kritiker.
Wolfspopulation soll auf 170 Individuen gesenkt werden
Heute streifen schätzungsweise 375 Wölfe frei durch die schwedische Wildnis. In Zukunft soll die Zahl auf 170 reduziert werden. Das sei genug für eine lebensfähige Population, heißt es aus der Politik.
Als Argumente werden unter anderem angeführt, dass eine reduzierte Population eine „lokale Akzeptanz der Wolfspopulation“ wiederherstellen werde.
„Für die Mitglieder der Moderaten Sammlungspartei ist dies schon seit langem ein Ziel, und wir glauben, dass dieses Ziel ein Neustart ist, um eine lokale Akzeptanz der Wolfspopulation zu schaffen. Dies wird die Chancen für diejenigen verbessern, die in ländlichen Gebieten leben und arbeiten“, sagt John Widegren, Fraktionsvorsitzender der Bürgerlich-Konservativen im Riksdag-Ausschuss für Umwelt und Landwirtschaft.
Peter Sunde, Professor an der Universität Aarhus, der Wolfspopulationen erforscht, erklärt gegenüber dem dänischen Rundfunk, dass es fraglich sei, ob Wölfe eine so große Bedrohung sind, wie es dargestellt wird.
„Wir haben gute Daten darüber, wie viele Nutztiere Wölfe töten und wie groß die Gefahr ist, die sie für den Menschen darstellen“, sagt er.
„Wenn man sich die Argumente anschaut, die verwendet werden, geht es wahrscheinlich eher darum, Bevölkerungsgruppen entgegenzukommen, die über Wölfe besorgt sind, als darum, was die nüchternen Daten belegen“, sagt er über den Plan in Schweden.
Platz für Tausende von Wölfen in Schwedens Wildnis
Der Wolf steht seit 1992 unter Schutz – dank einer EU-Habitatrichtlinie, die ihn in den meisten Teilen Europas als „streng geschützt“ einstuft. Dennoch haben die einzelnen Länder das Recht, das Wolfsmanagement nach eigenem Ermessen zu gestalten, was oft politische Dimensionen annimmt.
Diese Entscheidungen sollten jedoch auf fundierten, professionellen Meinungen basieren, betont Professor Peter Sunde.
Die Anwesenheit von Wölfen bleibt für den Menschen eine Herausforderung. In Schweden, ähnlich wie in Dänemark, sorgen Wolfsangriffe auf Nutztiere für Frustration unter Landwirten. Dennoch sieht der Wolfsexperte großes Potenzial für eine größere Wolfspopulation in Schweden – vorausgesetzt, die Gesellschaft würde dies unterstützen.
„Würde man den Wölfen erlauben, sich unter natürlichen Bedingungen im gesamten Land auszubreiten, gäbe es genug Nahrung für deutlich mehr Wölfe als die heutige Population“, erklärt Sunde.
Er möchte zwar keine exakte Zahl nennen, spricht jedoch von mehreren Tausend Tieren.
Doch so viele Wölfe wird es in Schweden wohl nie geben. Ähnlich wie in Dänemark gebe es dort eine Kultur des Tötens von Tieren, die den Menschen im Weg stehen – im Gegensatz zu anderen Regionen Europas, fügt er hinzu.
Rentierzucht geht über Wolfsschutz
Der Grund, warum es keinen politischen Willen zum Schutz des Wolfes in ganz Schweden gebe, sei die Lebensart des indigenen Volkes Skandinaviens, den Sami. In Schweden züchten die Sami im nördlichen Teil des Landes Rentiere.
Die Tiere sind domestiziert, und die Rentierzucht erstreckt sich über mehr als die Hälfte der Gesamtfläche Schwedens. Das ist auch der Grund, warum sich Wölfe nur von Mittelschweden aus nach Süden hin ausbreiten dürfen, sagt Peter Sunde.
Die domestizierten Rentiere der Sami hätten ein Verhalten, das es den Wölfen leicht mache, sie zu fangen, sagt der Professor gegenüber dem DR.
Kritiker in Schweden meinen: Referenzwert willkürlich reduziert
In der EU-Arten- und Habitatrichtlinie heißt es, man solle in Schweden eine „langfristig lebensfähige Wolfspopulation mit einem günstigen Erhaltungszustand“ haben. Der Referenzwert gibt an, wie viele Wölfe es geben muss, um die Richtlinie zu erfüllen. Diesen Wert kann Schweden in Eigenregie festlegen.
Aktuell liegt der Referenzwert für eine langfristig lebensfähige Wolfspopulation bei 300 Individuen. Vorausgesetzt, dass alle fünf Jahre ein Wolf aus Finnland oder von weiter im Osten nach Skandinavien einwandert, gilt diese Zahl als günstig für die Erhaltung der Tierart in Schweden.
Die Expertin vom Tierschutzverein Schweden, Anna Lundvall, übt scharfe Kritik.
„Es ist sehr ärgerlich, dass die Politiker die Forschungsergebnisse völlig ignorieren, obwohl sie genau deswegen einen Rückzieher machen mussten, als sie 2019 den Referenzwert schon einemal senken wollten, als die schwedische Umweltbehörde ihn auf 300 Wölfe festlegte“, kommentiert sie die politische Entscheidung in einer aktuellen Stellungnahme des Tierschutzvereins.
„Ich denke, dass dies einer bürokratischen Regelung ähnelt, und darauf sollten wir uns in Schweden nicht verlassen. Ihre Entscheidungen sollten auf der Grundlage von Forschungsergebnissen getroffen werden“, so Lundvall weiter.
Damit schätzt sie die Regierungsentscheidung als willkürlich ein.
Gefahr von Inzucht und Zusammenbruch der Population
Ihrer Meinung nach berge eine Verringerung der Wolfspopulation die große Gefahr von Inzucht und einen Zusammenbruch der Population.
Olof Liberg, Wolfsforscher an der Schwedischen Universität für Agrarwissenschaften, bestätigt die Kritik. Es gebe keine wissenschaftliche Grundlage für die Verkleinerung des Referenzwertes, sagt er gegenüber Dagens Nyheter.
Die schwedische Abteilung der Natur- und Umweltorganisationen WWF lehnt die Entscheidung der Regierung rundweg ab.
In ihrer Stellungsnahme nennt die Organisation das Vorhaben unverantwortlich. Mit dem Vorschlag einer so niedrigen Zahl von Wölfen ignoriere die Regierung die EU-Arten- und Habitatrichtlinie, die den Schutz gefährdeter Arten und ihrer Lebensräume sicherstellen soll, völlig, heißt es dort.
„Angesichts des weltweiten Artenrückgangs sollten wir uns darauf konzentrieren, die Widerstandsfähigkeit der Ökosysteme zu stärken, anstatt die Natur zu einer Keule in einer politischen Debatte werden zu lassen“, so Benny Gäfvert, Raubtierexperte vom WWF Schweden.
Das schwedische Jagdmagazin „Vildmarken“ übernimmt die Pressemitteilung der Regierung zu diesem Thema, ohne deren Inhalt zu kommentieren.
Nicht nur die schwedische Politik gibt sich als Entscheider über Leben und Tod. Die EU-Mitgliedstaaten haben kürzlich dafür gestimmt, den Schutzstatus des Wolfs im Rahmen der Berner Konvention herabzustufen – von „streng geschützt“ auf „geschützt“.
In Zukunft könnte es in verschiedenen Ländern zu verstärkter Bejagung der Tierart kommen. Schweden geht allerdings voran.