Briefe aus England – Die wahrscheinlich unberühmteste Stadt von Wales
Abersychan – Ein Reisebericht aus Wales
Abersychan liegt im Süden von Wales. Mein Partner ist dort aufgewachsen. Damals gab es da viele Geschäfte, aber für irgendwas berühmt geworden, ist der Ort noch nie. Abersychan liegt in der Nähe von Pontypool, was auch kaum einer kennt. Der nächste Versuch ist Newport. Wenn immer noch verblüfft geguckt wird, wird auf das bekannte Cardiff zurückgegriffen. Genau da liegt Abersychan.
Letztes Wochenende waren wir dort bei unserer Familie. Es liegt 20 Minuten hinter der Grenze von England. Über die M4 von London kommend etwa zwei Stunden gelegen, hinter der Severn Brücke bei Bristol.
Wer von England aus nach Wales an dieser Stelle einreist, muss £6.70 für die Überquerung der Brücke bezahlen. Diese Kosten halten die Brücke intakt. Eine Überquerung in die andere Richtung kostet nichts. Vielleicht wollen alle nach Wales, und niemand zurück?
Wales ist sehenswert! Idyllisch. Die Gower Peninsula bei Swansea ist umwerfend und zur Erholung zu empfehlen.
Es gibt auch Aufregendes zu erleben. Das Hay Festival hat gerade begonnen (25. Mai bis 4. Juni, www.hayfestival.com). Es ist eine der führenden Literatur-Veranstaltungen der Welt und findet in Hay-on-Wye statt, einem winzigen Örtchen direkt an der Grenze zu England. Diesmal findet es unter besonders hohen Sicherheitsmaßnahmen statt, nach dem Anschlag in Manchester am Montag.
Der Norden von Wales hat auch einiges zu bieten. Hohe Berge und den Snowdonia Nationalpark. Der englische Name leitet sich vom höchsten Berg von Wales ab, dem 1085 Meter hohen Snowdon.
Zurück zu Abersychan: Dort gibt es hohe Hügel, die „Black Mountains“. Wer die Landstraßen fährt, wird oft von Schafen überrascht. Sie sind nicht rechts und links aus dem Fenster zu sehen, sondern stehen plötzlich vor einem, mitten auf der Straße. Also Augen auf beim Kurvenverlauf! Zu dieser Jahreszeit werden die Schafe von kleinen Lämmchen begleitet. Das fand unser Sohn am Aufregendsten bei diesem letzten Besuch.
Die Gegend um Abersychan, dieses Mal ausnahmsweise sonnig und landschaftlich besonders eindrucksvoll, ist verarmt. Früher gab es viele Kohlebergwerke, zum Beispiel in Abertillery, wo in der Blüte der Kohleindustrie 2.760 Männer und Jungen gearbeitet haben.
Unter Thatcher wurde der Großteil der Bergwerke geschlossen. Damit ging die Industrie dem Gebiet abhanden, ein Vakuum entstand. Den Menschen wurde keine Alternative geboten, keine Umschulung, keine Restrukturierung der Bergbauregion. Die Arbeitslosigkeit schlug um sich, Mensch und Gegend verkamen.
In Merthyr Tydfil war im Jahr 2011 einer von zehn arbeitsfähigen Erwachsenen arbeitslos. In Swansea gibt es eine der höchsten Arbeitslosenquoten bei jungen Menschen (16-24 J.), jeder Fünfte ist betroffen.
Die EU unterstützt diese Region wie kaum eine andere im Vereinten Königreich. Dennoch wollte ein Großteil der Bevölkerung den Brexit. Von 22 Wahlgebieten (local authority areas), haben 17 für Brexit gestimmt. Irgendjemand muss schuld sein an der Misere, warum also nicht die EU? Die Menschen wollten eine Veränderung, da sie sich so lange vernachlässigt fühlten. Ob London sie besser behandeln wird als Brüssel, bleibt offen und stark zu bezweifeln.
Was ich immer sehr interessant in Wales finde, ist die Sprache. Das Englisch klingt anders vom Dialekt her (so sehr, dass unser Sohn seine Oma regelmäßig „korrigiert“), und dann gibt es die walisische Sprache.
Von unter 20% der gesamten Bevölkerung benutzt, wird sie hauptsächlich im Norden und Westen des Landes gesprochen und dort auch im Klassenunterricht als erste Sprache verwendet. In den anderen Gebieten ist es seit 1990 Pflicht, die walisische Sprache zumindest als Zweitsprache zu unterrichten. Im ganzen Land kommt sie neben Englisch auf allen Straßenschildern und Anweisungen vor.
„Bis zum nächsten Mal“ heißt auf Walisisch „tan y tro nesaf“.
Pia Kurtsiefer
Über die Autorin Vor 13 Jahren zog Pia Kurtsiefer aus dem Rheinland nach London, um als Lehrerin in einer Schule für autistische Kinder zu arbeiten. Heute lebt sie mit Kind und walisischem Mann in Hertfordshire. Für NORDISCH.info schreibt sie die Serie „Briefe aus England“. |